Fürstenfeldbruck:Freundschaft mit dem Ruhelosen

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Mit einem bewegenden Ausschnitt aus einem Film über Jörg Immendorff beginnt Tilman Spengler seinen Auftritt. (Foto: Günther Reger)

Tilman Spengler liest unterhaltsame Geschichten über Jörg Immendorff

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

80 Prozent Wahrheit und 20 Prozent Erstunkenes und Erlogenes versprach Tilman Spengler dem Publikum im Veranstaltungsforum zu Beginn seiner Lesung. Und am Ende konnte man sich nicht sicher sein, ob das Verhältnis vielleicht 50/50 war oder man nicht doch zu 100 Prozent die Wahrheit gehört hat. Denn Spengler ist ein herausragender Geschichtenerzähler, dessen Worte zwar wie ein lockeres Heraussprudeln seiner Gedanken wirken, die dann aber doch so dicht sind, dass man jede Silbe voller Neugier in sich aufsaugt. Klar, der Narrativ, den Spengler über den polarisieren und exzentrischen Maler Jörg Immendorff entwickelt, ist einer von vielen möglichen, aber vielleicht ist es genau dieses Subjektive, was diese Version glaubhafter und lebhafter macht als jede nüchterne Biografie.

Spenglers Roman über Immendorff ist angelegt wie ein klassischer Bilderzyklus und so ist schon die Form des Buches eine Hommage an den guten Freund, der mit dem 16-teiligen Zyklus "Café Deutschland" in den Achtzigern auch über die Grenzen der Kunstliebhaberszene und der linken Studentenschaft hinaus bekannt wurde. "Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben", heißt der Roman und er erzählt in umgekehrter Chronologie, vom Tod bis zur Geburt, 15 Episoden aus Immendorffs Leben. Für die Lesung kehrte Spengler seine verdrehte Zeitleiste wieder um und begann einem Auszug über die ereignisreiche Taufe des Protagonisten. "Der kleine Jörg plärrt immer noch", lautet der zentrale Satz dieses Kapitels, doch er ist vielmehr die zentrale Aussage des ganzen Buches: Jörg Immendorff, der Provokateur, Störenfried, Selbstdarsteller, bis ins Alter ein unzufriedenes Kind.

Doch der Protagonist dieser Szene ist nicht der junge Künstler, der von seiner späteren Profession längst noch nichts ahnt, sondern eine Taube, die im Turmgebälk der zerstörten Kirche so viel Krach macht, dass die Gottesdienstbesucher mehr auf sie - und ihren grausamen Tod - als auf den Pfarrer achten. Doch Zeit, sich an dieser Szene zu erfreuen oder über ihre mögliche symbolische Bedeutung nachzudenken, hat man wenig. Denn kaum sind die blutigen Überreste des Tieres auf dem Boden neben dem herumkrabbelnden Baby eingeschlagen, ist Spengler bereits bei der Beschreibung eines SS-Kelches, der mangels Alternativen zum Taufinsignium geworden ist, die Runen notdürftig von einem ortsansässigen Waffenwart übertüncht. "Man kann ruhig sagen, dass schon am Anfang eine Fälschung stand", lässt Spengler Immendorff diese Szene noch bedeutungsschwer kommentieren.

Doch viel Zeit, aus seinem Buch zu lesen, hatte Spengler an diesem Abend nicht. Viel lieber nutzte er einen Großteil der Veranstaltung, um den etwa 70 Besuchern im Säulensaal Anekdoten über Immendorff und gemeinsame Erlebnisse der beiden zu erzählen. So wie die Geschichte von einer Reise Gerhard Schröders nach Indien, auf der die beiden als Sondergäste Kultur - SoGaKus in der Fachsprache - dabei waren. Bei einer Erkundungstour durch den Präsidentenpalast öffnete sich plötzlich eine der vielen Türen und der Hausherr stand vor den beiden Gästen. "Er wusste, dass er an diesem Tag zwei wichtige Deutsche empfangen wird. Und so begrüßte er Jörg mit Hello Mister Schily und mich mit Hello Mister Schröder", erzählt Spengler.

Als er über Immendorffs Düsseldorfer Zeit spricht, erfahren die Besucher nicht nur etwas über die prägenden Jahre des Malers, sondern auch über die Entstehung einer ganzen Generation von Künstlern, die von Düsseldorf aus zumindest die linke Jugend und damit dann doch auch die Geschichte der Republik beeinflusst haben. "Wer immer hier eintritt, ahnt, dass er eine neue Kirche betritt", fasst es Spengler in seinen Worten zusammen. Diese Kirche, das war der "Ratinger Hof" in Düsseldorf, wo Künstler wie Sigmar Polke, Joseph Beuys, A.R. Penck und Musiker wie die Mitglieder der späteren "Toten Hosen" aufeinandertrafen.

Spätestens, als Spengler das Publikum in ein großes Geheimnis um Immendorffs Trauerfreier einweiht, hat er den letzten Besucher auf seiner Seite, hat er eine verschworene Gemeinschaft geschaffen. "Ich bitte die Vertreter der Presse, dass das, was ich jetzt erzähle, hier im Raum bleibt", schickt er vorab noch in den Saal. Und wer könnte sich einer so eindringlichen Bitte dieses charismatischen Geschichtenerzählers widersetzen.

© SZ vom 29.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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