Fürstenfeldbruck:Flüchtlingswelle ohne Obergrenze

Amperland schildert Situation der Vertrieben nach dem Weltkrieg

Von Peter Bierl, Fürstenfeldbruck

Heute lamentieren Bürgermeister wohlhabender Gemeinden, die auf Bevölkerungszuwachs orientiert sind und deren Gewerbegebiete boomen, sie könnten keine Menschen aus Bürgerkriegs- und Elendsgebieten mehr aufnehmen. Bei maximal zwei Prozent sei die Obergrenze erreicht und nur mit massiven Einschränkungen zu ertragen. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkriegs allerdings nahm die Stadt Fürstenfeldbruck etwa 2000 Menschen auf, was damals einem Anteil von 20 Prozent der Bevölkerung entsprach - und das in einer Zeit, die geprägt war von den Zerstörungen brutalen Krieges, in der die Beschaffung von Kleidung, Nahrung und Brennstoff für Behörden und Wirtschaft kaum zu bewältigen war. Die Stadt Bruck und der Landkreis zählten damals, was die Aufnahme von Flüchtlingen betraf, zu den Spitzenreitern in Oberbayern.

Die Historikerin Angelika Fox hat bereits 1998 eine Studie über die Kriegsflüchtlinge im Landkreis vorgelegt, der Brucker Stadtarchivar Gerhard Neumeier hat nun eine Forschungslücke geschlossen, in dem er die Herkunft und Anzahl der damaligen Flüchtlinge, ihre Berufsstruktur sowie deren wirtschaftliche und politische Integration in der Stadt untersucht hat. Das Ergebnis seiner Recherchen ist im neuesten Heft der Zeitschrift Amperland nachzulesen. Die Lektüre ist auch insofern lohnend, als dass sie einen Vergleich mit der aktuellen Situation geradezu herausfordert und Ideen für die Integration der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika liefert.

Solide Vergleiche zeigen aber auch Unterschiede auf. Die meisten Flüchtlinge kamen 1946 in Fürstenfeldbruck an, die wichtigsten Herkunftsorte waren Breslau und Königsberg, etwa 50 Prozent der Menschen stammten aus der Tschechoslowakei, ein Viertel aus Schlesien, die Mehrheit war katholisch. Viele waren gut ausgebildet, die größte Gruppe stellten gelernte Arbeiter und Handwerker, überdurchschnittlich viele waren Akademiker, der Anteil von Landwirten war hoch. Tatsächlich trugen die Flüchtlinge zum Wirtschaftswunder bei. Obwohl ohne Startkapital, machten sich viele selbständig, daraus entstanden Unternehmen wie die Firma Kohl, die Mode und Textilien herstellte. Unter den Flüchtlingen waren zudem wenig junge Menschen, wie Neumeier festgestellt hat. Die meisten von ihnen waren zwischen 1870 und 1900 geboren und schon länger verheiratet, was den Neustart in der Fremde erleichtert haben dürfte, vermutet der Archivar in seinem Aufsatz.

Die Einquartierung von Flüchtlingen in Privathäuser machte diese bei den Einheimischen regelrecht verhasst, ähnlich wie die Beschlagnahme von Wohnungen für überlebende jüdische NS-Opfer den Antisemitismus wieder anfachte. Obwohl die meisten Flüchtlinge katholisch waren, gab es Konflikte in den Pfarreien, weil die religiösen Bräuche verschieden waren.

Im Landratsamt wurde ein Flüchtlingskommissar ernannt, dazu eine Flüchtlingskommission in jeder Gemeinde, die freie Baracken, Säle und Unterkünfte melden musste. Einen handfesten Streit trug Flüchtlingskommissar Karl Wanninger mit der Stadt Fürstenfeldbruck wegen rigoroser Beschlagnahme von Wohnungen aus. Zur Integration trug dagegen bei, dass die Flüchtlinge von Anfang an selbst ihre Interessen vertreten konnten: Es gab einen Vertrauensmann der Flüchtlinge in jedem Ort, sie nahmen von Anfang an Wahlen teil und kandidierten selber für Stadtrat und Kreistag. Neumeier weist darauf hin, dass die sogenannten Sudetendeutschen bis 1938 in wachsender Zahl für den Ableger der Nazipartei in der Tschechoslowakischen Republik gestimmt hatten, obwohl sie sehen konnten, was nebenan, in Deutschland geschah.

In den weiteren Aufsätze im neuen Amperland-Heft schreibt Bernhard Schoßig über Kunst und Künstler in Dachau während der NS-Zeit, Annegret Braun beleuchtet die Lage der Frauen in der Nachkriegszeit in Dachau und Paul Hoser hat die "Gleichschaltung" in Freising 1933 aufgearbeitet.

Amperland. Heimatkundliche Vierteljahresschrift für die Kreise Dachau, Freising und Fürstenfeldbruck, Heft 1, 2016, Fünf Euro. Die Hefte können im Buchhandel bestellt werden.

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