SZ-Schulratgeber:"Es bringt nichts, nur auf die Defizite zu schauen"

Schule

Wenn es um den Übertritt auf eine weiterführende Schule geht, wächst der Druck auf die Kinder .

(Foto: dpa)

Wenn es um den Übertritt auf eine weiterführende Schule geht, wächst der Druck auf Kinder enorm. Muss das sein? Sabine Polster, Leiterin der schulpsychologischen Beratungsstelle, kennt Strategien, die Leistungsdruck erträglicher machen können.

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Schulpsychologin Sabine Polster berät Eltern, Schüler und Lehrern und ist für das gesamte System Schule bei Krisen- und Konfliktfällen zuständig. Sie hält den großen Druck beim Übertritt für kontraproduktiv und plädiert dafür, Kinder nicht nur zum Lernen zu motivieren, sondern diesen auch Raum für ihre Begabungen zu lassen.

SZ: Sind sich Neun- oder Zehnjährige denn überhaupt schon über die Tragweite im Klaren, die der Übertritt nach der vierten Klasse bedeutet?

Sabine Polster: Viele Kinder wissen durchaus, um was es da geht. Aber sie haben oft einen eher kognitiven Zugang und sind emotional noch nicht so weit, den Plan umzusetzen. Sie stehen nicht mit all ihrem kindlichen Wollen hinter dem Lernen. Das ist so ähnlich wie beim Raucher, der weiß, dass er aufhören sollte, das aber nicht schafft.

Besteht nicht durch die schiere Probenflut die Gefahr, dass Kinder gleich ganz die Lust an der Schule verlieren?

Ja, absolut. Übrigens sind auch Lehrer die Leidtragenden. Denn ihnen bleibt zu wenig Zeit für pädagogisches Arbeiten. Wenn mit dem Blick auf die Uhr und die nächste Probe versucht werden muss, den Lernstoff durchzubringen, dann fehlt es an Gelassenheit und auch an der Zeit, Konflikte innerhalb der Klasse in aller Ruhe zu lösen, auf Sorgen und Nöte eines einzelnen einzugehen. Die meisten Lehrer tun dies trotzdem und stehen dann unter einem immensen Druck. Verschärft wird dieser dadurch, dass bei Parallelklassen buchstäblich im Gleichschritt gelehrt werden soll, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten und nicht juristisch angreifbar zu sein. Krank werden darf da auch kein Lehrer. Eigentlich waren die vielen schriftlichen Prüfungen ja gut gemeint. Sie sollten verhindern, dass eine verpatzte Probe zu stark ins Gewicht fällt. Aber das alles ist doch für Kinder, Eltern und Lehrer eher zu einer Belastung geworden.

Was bewirkt der Prüfungsstress bei den Kindern?

Es gibt hochfunktionale Kinder, die gut damit zurechtkommen. Aber ebenso gibt es Kinder, bei denen der Druck Kopf- oder Bauchschmerzen auslöst oder die deshalb ganz die Schule verweigern nach dem Motto: das kann ich nicht, deshalb will ich jetzt auch gar nicht mehr. Solche Kinder schlagen oft bei der schulpsychologischen Beratungsstelle auf.

Welche Strategien gibt es für die Eltern?

Natürlich kann man empfehlen, den Druck herauszunehmen. Aber das wäre zu einfach. Zwar führt beispielsweise auch über die Fachoberschule ein guter Weg zum Abitur, aber es ist auch verständlich, dass viele Eltern ihre Kinder gerne auf dem Gymnasium oder an der Realschule sehen. Ein Teil des Drucks wird zudem innerhalb der Klasse aufgebaut. Kinder orientieren sich an anderen Klassenkameraden, und da werden dann gute Noten und Übertrittschancen zu so etwas wie einem Statussymbol. Eltern und Lehrer sollten deshalb gegen den Tunnelblick arbeiten und soziale Kompetenzen sowie Begabungen jenseits der Schulfächer würdigen. Persönlichkeit und Interessen müssen ihren Raum bekommen als Voraussetzung für schulischen und beruflichen Erfolg.

Das Selbstbewusstsein ist also wichtig?

Ja, natürlich. Es bringt nichts, nur auf die Defizite zu schauen. Ebenso wichtig sind die Dinge, die die Kinder stärken. Bei mir in der Beratung war kürzlich ein Junge, der große schulische Probleme hatte, aber ein sehr talentierter Fußballer ist. Ich habe die Eltern darin bestärkt, ihm das Training nicht zu nehmen, auch wenn es dreimal die Woche ist. Denn aus diesen sportlichen Erfolgen zieht das Kind Identität und Selbstbewusstsein. Es lernt zudem eine Menge Basiskompetenzen, die es auch für die Schule braucht. Wir müssen vermeiden, dass Viertklässler bereits psychosomatische Störungen davontragen. Sie brauchen nicht nur Leistungsbereitschaft in der Schule, sondern auch seelische Stabilität und Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Schließlich haben sie ja auch noch viele weitere Schuljahre vor sich.

Ist unser Bildungssystem da nicht viel zu einseitig?

Ja. Alles soll möglichst engmaschig dokumentiert und vergleichbar sein, aber die Vergleichbarkeit hört ja schon auf, wenn wir Hamburg und München vergleichen. Da werden völlig verschiedene Maßstäbe angelegt, am Ende konkurrieren die Schüler aber um dieselben Studienplätze. Ein Blick in andere Länder zeigt Alternativen. Für mich faszinierend sind beispielsweise fachlich orientierte Volksschulen, wie es sie in Österreich gibt. Da gibt es Musik-Volksschulen, für die sich Kinder und Eltern gezielt bewerben. Dadurch identifizieren sich die Kinder viel stärker mit ihrer Schule. Auch unsere Mittelschulen bräuchten stärkere Profile, gerade in Richtung Musik und Sport, und deutlich mehr zur Verfügung stehende Lehrer.

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