Fürstenfeldbruck:Am Nullpunkt

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Emily ist viereinhalb, als sie erfährt, dass sie Leukämie hat. Damit ändert sich der ganze Alltag ihrer Familie. Doch eine Knochenmarkspende macht Hoffnung auf Heilung

Von Anna Landefeld-Haamann

Nur einen Fingerwisch ist die Zeit vor dem Krebs entfernt. Die elfjährige Emily streicht mit ihrem rechten Zeigefinger über das Tablet-Display, über Bilder, auf denen ein pausbäckiges Mädchen mit vollem, blonden Pferdeschwanz ein Kaninchen auf dem Arm hält, Grimassen mit ihrer besten Freundin schneidet und herumalbert. Emily streicht weiter. Jetzt kommen verwackelte Bilder mit Maschinen, aus denen Schläuche ragen, ein Tropf mit noch mehr Schläuchen, eine Krankenschwester mit Klemmbrett, Selfies kurz nach der Chemotherapie mit Zahnlücke und Wollmütze, um den Haarausfall zu kaschieren. Emily hat ihren quälenden und, wie sie sagt ebenso "sehr langweiligen" Alltag dort von ihrem Bett aus dokumentiert.

Ein Alltag, den die Leukämie seit Jahren bestimmt und in dem an erholsame Familienzeit mit Eltern und den drei jüngeren Geschwistern nur selten zu denken war. Ein Urlaub auf dem Bauernhof mit allen zusammen - das wäre Emilys größter Wunsch, den ihr der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung gerne erfüllen möchte. Den bislang letzten Urlaub hatte Mutter Daniela Söhnel-Dittmer vor vier Jahren gebucht, eisern dafür gespart. Doch Emily erlitt einen schweren Rückfall. "Seitdem plane ich nichts mehr im voraus", erzählt die 37-jährige Bruckerin.

Familie Dittmer mit ihren Kindern. Die elfjährige Tochter im dunkelblauen Shirt hat Leukämie. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Emily ist gerade einmal viereinhalb Jahre alt, als sie eines Tages über Bauchweh klagt, außerdem tun ihr die Beine beim Treppensteigen weh. Auf einmal ist da auch ein blauer Fleck an ihrem Kopf, der Mutter Daniela zwar auffällt, bei dem sie sich aber nichts weiter denkt. Doch als Fieberschübe Emily über Wochen immer wieder quälen, bringt sie ihre Tochter zum Arzt. Bestimmt nur eine Grippe. Ein großes Blutbild wird gemacht. Drei Ärzte überbringen das Ergebnis: akute, myeloische Leukämie. Die aggressivste Form von Blutkrebs, der nur sehr selten bei Kindern vorkommt und innerhalb kürzester Zeit zum Tod führen kann.

Für das nächste halbe Jahr lebt die Familie im Krankenhaus. Chemotherapie folgt auf Chemotherapie. Es ist Mitte September, Erkältungszeit. Emily muss isoliert werden, denn ihr Immunsystem ist durch die Behandlungen auf dem Nullpunkt. Nur in Schutzkleidung dürfen sie ihre Eltern besuchen. Weil aber im Kindergarten die Ringelröteln kursieren, darf die zwei Jahre jüngere Schwester Aileen gar nicht zu Emily. "An einem Tag standen die beiden an der Glastür der Isolierstation. Emily auf der einen Seite, Aileen auf der anderen", erinnert sich Mutter Daniela, "Beide haben im gleichen Moment ihre Hände auf das Glas gelegt und sich angeschaut. Bis heute bricht es mir das Herz." Etwas irritiert schaut Emily ihre Mutter an. "Wirklich? Ich erinnere mich gar nicht mehr."

Dafür sind ihre Erinnerungen an den Rückfall um so präsenter. Da ist Emily sieben Jahre alt, geht zur Schule, schwimmt und tanzt gerne. Da beschleicht ihre Mutter ein ungutes Gefühl: "Emily hat im Garten gespielt. Ich habe sie zu mir gerufen und ihre unteren Augenlider heruntergezogen. Ihre Schleimhäute waren ganz blass." Wieder sofort ins Krankenhaus, wieder Chemo, dieses mal mit stärkeren Medikamenten, die Emily komplettes Knochenmark, kranke und gesunde Zellen, zerstören. Als Ersatz soll ihr neues Knochenmark eines geeigneten Spenders transplantiert werden. Es ist Emilys einzige Chance auf Heilung. Nach einem Monat zwischen zermürbendem Warten und Panik, landet am 22. Oktober 2013 endlich ein Flieger aus Washington. An Board befindet sich die Knochenmarkspende eines 19-jährigen US-Soldaten. "Gratuliere, zu deinem neuen Leben", sagt eine Ärztin, als sie im Krankenhaus den Beutel mit einem Schlauch an Emilys Vene anschließt.

Danach beginnt die kritische Phase. Fünf Monate verbringt Emily in einem drei mal drei Meter großen Glaskasten. Hier liegt sie zusammen mit zwölf medizinischen Apparaten, die Toilette ist ein Sitz, der nur durch einen Vorhang getrennt ist. Alles und jeder wird desinfiziert, bevor er zu Emily darf. Nach ein paar Wochen kann Emily ihre Haut und Nägel abziehen. "Wie bei einer Schlange", sagt sie. Ihre Schleimhäute platzen auf. Alles brennt, alles ist geschwollen, "wie bei einem Hamster". Emily kann kaum sprechen und weil das Kinderprogramm im Fernsehen irgendwann langweilig wird, beginnt die Familie Pantomime mit laminierten und desinfizierten Begriffskarten zu spielen.

Emily hat in dieser Zeit viel über die Krankheit nachgedacht, über das Sterben, sogar über die eigene Beerdigung. Ihrer Mutter erzählte sie damals, dass sie sich wünsche, dass alle bunt gekleidet sind und Kindermusik gespielt wird. Mutter Danielas Gesichtsausdruck wird nachdenklich, als sie sich daran erinnert. Und dennoch sei es wichtig gewesen, sagt sie, als Familie und im Freundeskreis auch über die heiklen Themen zu reden. "Wir haben nichts tabuisiert." Ein Jahr noch muss Emily krebsfrei bleiben, dann gilt sie als geheilt.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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