SZ-Interview:"Einen solchen Unsinn macht kein anderes Land"

Thomas Karmasin

Landrat Thomas Karmasin verlässt den Sitzungssaal, in dem der Kreistag die politischen Entscheidungen für den Landkreis fällt.

(Foto: Günther Reger)

Thomas Karmasin hält Angela Merkels Flüchtlingspolitik nach wie vor für einen Fehler. Im SZ-Interview spricht er auch über Markus Söder.

Interview von Heike A. Batzer, Fürstenfeldbruck

Der Knopf ist ab. Landrat Thomas Karmasin, 55, der auch Kreisvorsitzender der CSU ist, näht ihn gerade wieder an sein Sakko. Das habe er bei der Bundeswehr gelernt, sagt er lachend. Er sitzt zum Interview in seinem Büro im ersten Stock des Landratsamtes, in dem ein großer Schreibtisch steht und eine lederne Sitzgruppe für Gäste. Hinten an einem Türgriff baumelt Edmund Stoiber - als kleiner Hampelmann. Ein Geschenk von der Jungen Union, erzählt Karmasin.

SZ: Bayern bekommt einen neuen Ministerpräsidenten: Markus Söder. Ein Gewinn für den Freistaat?

Thomas Karmasin (atmet hörbar durch): Die Ära Seehofer ist jetzt zu Ende. Der Wechsel ist gut gelungen zu jemandem, der das kann, der klug ist und der Inhalte vermitteln kann.

Nach Jahren, in denen man den Menschen Politikverdrossenheit nachgesagt hat, scheinen sie sich wieder mehr für Politik zu interessieren. Ist das wirkliches Interesse oder sind die Menschen eher unzufrieden?

Wenn jemand nicht einverstanden ist, dann treibt es ihn eher an die Wahlurne, als wenn er mit allem zufrieden ist. Die Themen waren griffiger, allen voran die Flüchtlingsfrage. Das ist das Thema, das die Menschen mehr bewegt als die 17. Durchführungsverordnung zur Umsatzsteuer.

Möglicherweise beunruhigt die Menschen auch, dass die Gesellschaft gespalten ist, dass Reiche immer reicher werden und Arme immer ärmer. Sollte Politik da nicht mehr tun?

Dass die Reichen reicher werden, ist irgendwie unvermeidlich. Man kann sie allenfalls durch hohe Steuern aus dem Land treiben. Die Frage, wer arm ist, ist komplexer. Da gibt es unterschiedliche Definitionen. Die unsinnigste ist die, die jemanden als arm bezeichnet, der einen gewissen Abstand zum Durchschnittseinkommen aufweist. Das würde bedeuten, dass wir ein paar hundert Arme mehr hätten, wenn Bill Gates in den Landkreis zöge. Aber auch die Definition der Weltbank, der zufolge jemand arm ist, der weniger als zwei Dollar am Tag hat, passt bei uns nicht. Ich würde als arm denjenigen bezeichnen, der auf Grundsicherung der öffentlichen Kassen angewiesen ist. Ich glaube insofern nicht, dass die Armen ärmer werden, denn der Sozialhilfesatz wird laufend angepasst. Wenn die Reichen aber immer reicher werden, geht die Schere trotzdem auseinander. Eine Gefahr sehe ich für die untere Mittelschicht, für Menschen, die hart und brav arbeiten und Angst haben, sich zu verschlechtern. Wenn ich wüsste, wie man das abstellt, würde ich ein Buch schreiben und vielleicht den Nobelpreis kriegen. Zu den Gegenmaßnahmen gehört, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, aber nicht dadurch, dass man den Markt kaputt macht und durch den Staat ersetzt. Sondern durch Investitionsanreize, etwa steuerliche Anreize.

Spürt man den Riss in der Gesellschaft auch als Kommunalpolitiker?

Von einem Riss würde ich nicht sprechen, das ist zu krass. Uns geht es ja gut im Vergleich zu ärmeren Gegenden. Deshalb würde ich auch nicht von Armut sprechen, sondern von Abständen, die als ungerecht empfunden werden. Der Mensch möchte sich auch wirtschaftlich weiterentwickeln; wenn er den Eindruck hat, dass ihm dies nicht mehr möglich ist, wird es schwierig.

Offensichtlich nimmt auch die Verrohung der Gesellschaft zu. Das Landratsamt wird von Security-Mitarbeitern bewacht. Fühlen Sie sich jetzt sicherer?

Ich persönlich habe mich auch vorher nicht gefürchtet, aber für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es sicherer, vor allem im Jugend- und Ausländeramt. Da geht es meist um emotionale Betroffenheiten, und oft ist der Umgang mit den eigenen Gefühlen, auch kulturell bedingt, anders als bei uns. Früher waren das Einzelfälle, jetzt ist es an der Tagesordnung, dass sich einzelne unangemessen aufführen.

Müssen die unteren politischen Ebenen ausbaden, was die große Politik falsch macht? Auch Sie kritisieren Bund und Land dahingehend, dass sie Aufgaben delegieren, die Kosten dann an Städten und Gemeinden hängen bleiben.

Die Bundespolitik wirft gerne Wohltaten unters Volk wie Bonbons aus dem Faschingswagen. Das Problem ist, dass allzu oft die Kommunen die Segnungen finanzieren müssen. Der Landkreis Fürstenfeldbruck war zwischen 2015 und 2016 für bis zu 180 unbegleitete Minderjährige zuständig, das kostete dann 8,6 Millionen Euro in einem Jahr. Diese Kosten werden zwar zunächst ersetzt. Wenn die Jugendlichen aber volljährig werden und aufgrund Bundesgesetzes weiterhin das Recht auf Leistungen haben, verliert der Bund die Lust und überlässt sie dem Landkreis. Wenn uns hier nicht zumindest anteilig der Freistaat helfen würde, wäre das ruinös.

Ein Sanierungsstau von 45 Millionen

Als Landrat betonen Sie gerne, dass der Landkreis wenig Gestaltungsspielraum hat, weil die meisten Ausgaben ohnehin festgeschrieben sind. Frustriert das, quasi nur Vollzugsorgan zu sein?

Die Kommunen sitzen am kürzeren Hebel. Vor etwa zehn Jahren gab es eine Klage deswegen. Man hätte Kreistag und Landrat damals eigentlich abschaffen können, da sie nur als Auszahlmaschinen von Transferleistungen und Pflichtaufgaben agiert haben. Aber das ist besser geworden, der Gestaltungsspielraum ist wieder größer. Ich würde heute nicht mehr klagen. Es findet wieder Kommunalpolitik statt.

Den Bau und Unterhalt von weiterführenden Schulen kann der Landkreis selbst gestalten. Zu Beginn des Jahrzehnts wurde ein Sanierungsstau von 45 Millionen Euro festgestellt. Seither wird intensiv investiert. Hat die damalige Kontroverse zur Einsicht geführt?

Berufsschule FFB

Die Berufsschule in Fürstenfeldbruck ist das derzeit teuerste Projekt des Landkreises. Sie wird am Ende 44 Millionen Euro kosten.

(Foto: Günther Reger)

Ein Sanierungsstau würde suggerieren, dass nichts gemacht wurde. Das stimmt nicht. Allein seit 2010 haben wir 77 Millionen Euro in die Schulen investiert, die Sanierungen kamen nie ins Stocken. Da ist ständig Bedarf, den wir abarbeiten. Ist die eine fertig, ist die nächste dran. Selbst in finanziell schlechten Zeiten wurde saniert.

Gerade wird eine neue Berufsschule gebaut, eine Fachoberschule in Germering soll folgen und auch die bestehenden Gebäude müssen instandgehalten werden. Kann man sich das auf Dauer leisten?

Das sind große Lasten. Das Umlagesystem lässt nicht zu, dass die Landkreise Rücklagen bilden. Also werden Schulen immer auf Pump finanziert. Aber in der doppischen Haushaltsführung, die wir inzwischen machen, sind auch Substanz und Verzehr erfasst. Dennoch sind das Schulden, die beglichen werden müssen. Ich halte sie aber für gerechtfertigt. Denn diejenigen, die die Schulen in der Zukunft zahlen, können sie in der Gegenwart schon benutzen.

Wenn Sie die neuen Gebäude sehen mit Aufenthaltsbereichen, Lernflurzonen, digitalen Whiteboards: Würden Sie auch noch mal gerne in die Schule gehen?

Nein, ich bin kein begeisterter Schulgänger gewesen. Ich glaube, Lehrer sind wichtiger für den Lernerfolg als Whiteboards. Es war schon immer so, dass man einem begeisternden Lehrer gerne zugehört hat, und es gab welche, die selbst einen Witz langweilig erzählt haben. Inzwischen ist ein Whiteboard halt Standard, früher war es eine Tafel. Wir sorgen natürlich für die zeitgemäße technische Ausstattung.

Macht denn Kreispolitik wieder mehr Spaß, seit man nicht mehr so streng sparen muss wie vor Jahren?

Sparen muss man immer, weil man ja fremde Gelder ausgibt. Aber es macht mir schon Spaß.

Wie lange könnte Ihnen das noch Spaß machen? Oder andersrum gefragt: Was werden Sie im Jahr 2020 tun?

Dass ich schon länger im Amt bin, hat den Spaß nicht vermindert, im Gegenteil. Es ist mittlerweile wie bei einem erfahrenen Tennisspieler, der muss auch nicht mehr so viel laufen, weil er weiß, wo der Ball aufschlägt. Man hat mit den Jahren mehr Überblick, mehr Erfahrung und ist besser vernetzt. Eine SMS an die richtige Stelle in einem Ministerium, ist heute vielleicht erfolgreicher als früher drei Schreiben. Ich bin Vorsitzender im Rechtsausschuss des Deutschen Landkreistages und Vizepräsident des Bayerischen Landkreistages. Das sind Dinge, die den Blickwinkel über den Landkreis hinaus öffnen. Für 2020 (Jahr der nächsten Kommunalwahl, d. Red.) habe ich mich noch nicht festgelegt. Die Familie muss mitmachen, aber die ist das gewöhnt. Man braucht Gesundheit, das hat man nicht im Griff. Und man muss schauen, ob einen die Leute noch sehen können. Momentan habe ich keine anderen Pläne, aber ich weiß, dass ich nicht zu denen gehöre, die Landräte bis weit über die 70 hinaus im Amt belassen wollen.

Bis 2020 ist noch Zeit. In Ihrer Partei aber werden jetzt viele Weichen gestellt. Mehrere etablierte Politiker treten ab: Gerda Hasselfeldt, Reinhold Bocklet. Wie kann die CSU diesen Verlust an Kompetenz und Erfahrung auffangen?

Beide sind ja sehr starke Leistungsträger in der CSU, die sich im Kreis extrem eingebracht haben. Das kann man nicht sofort kompensieren. Aber es kommen neue Ideen, eine neue Generation. Mit Katrin Staffler geht es gut weiter im Bund.

Nun tun sich ganz ungewohnte Szenarien auf: Gleich vier CSU-Bewerberinnen und -Bewerber möchten die Bocklet-Nachfolge als Landtagsabgeordnete antreten. Hat die Partei es versäumt, einen Nachfolger aufzubauen?

(schmunzelt): Hat man nur einen Kandidaten, heißt es, man hat sich früh festgelegt. Hat man mehrere zur Auswahl, dann heißt es, man hat keine Nachfolger aufgebaut. Wie man es macht, macht man es falsch.

Wie Integration gelingen kann

Auch auf Kreisebene gibt es Veränderungen: In Emanuel Staffler übernimmt ein Vertreter der jüngeren Generation den CSU-Fraktionsvorsitz. Werfen die Kommunalwahlen ihre Schatten voraus?

Als Landrat und Kreisvorsitzender habe ich auch die Aufgabe, Führungsreserven heranzubilden. Frederik Röder (bisher CSU-Fraktionsvorsitzender im Kreistag, d. Red.) hat mir mitgeteilt, dass er vorhat, das in jüngere Hände zu legen. Emanuel Staffler, der Mann von Katrin Staffler, ist einer, der gut ist. Das ist aber jetzt keine Vorfestlegung. Es ist eine Erneuerung, eine Verjüngung.

Wenn Sie das Jahr 2017 resümieren, was bleibt Ihnen in Erinnerung?

Etwas Besonderes war für mich, im Landtag in der Enquetekommission "Integration in Bayern" mitarbeiten zu dürfen. Das Thema Integration ist sehr wichtig, ich habe viel gelernt. Beim Gesamtthema Zuwanderung ist mir aufgefallen: Wir Deutsche können aus unserer Haut nicht raus, wir haben nun mal die Auffassung, dass wir immer alles am besten können. Weltweit verstehen nur wir was von Asylrecht. Und so gibt es dann sogar Kirchenasyl für jemanden, der nach Österreich überstellt werden soll. Besondere Kapriolen vollbringen wir bei minderjährigen Zuwanderern. Wir therapieren einen afghanischen Jungen gnadenlos und ohne Rücksicht auf Verluste so lange, bis aus ihm ein junger Erwachsener geworden ist, der deutschen Maßstäben genügt. Das kostet pro Einzelfall so um die 200 000 Euro. Und wenn er endlich so weit ist, bemühen wir uns nach Kräften, ihn wieder zurück nach Afghanistan zu schicken, wo er vieles von dem, was er hier gelernt hat, gar nicht brauchen kann. Soweit ich das überblicken kann, macht einen solchen Unsinn kein anderes Land.

Gehört die Betreuung nicht zur Integration? Genauso wie Arbeitserlaubnisse? Asylhelferkreise hatten eine Protestaktion organisiert, weil das Landratsamt Arbeitsverbote gegen Flüchtlinge erlässt.

Man muss zwischen vier Gruppen unterscheiden: Die erste, die anerkannten Asylbewerber, können problemlos arbeiten, sie brauchen keine Erlaubnis dafür. Für die zweite Gruppe, jene aus sicheren Herkunftsländern, gilt ein gesetzliches Arbeitsverbot. Drittens, die abgelehnten Asylbewerber: Wenn sie arbeiten würden, ist das das Gegenteil von Ausreise. Sie sollen sich nicht integrieren, sondern heimfahren. Und viertens jene, die sich noch im Asylverfahren befinden: Da prüfen wir für Arbeitserlaubnisse jeden Einzelfall.

Wie kann denn Integration gelingen?

Fünfzig Prozent meiner Arbeitszeit kümmere ich mich um die Ausreise derer, die nicht bleiben dürfen, und fünfzig Prozent, um die zu integrieren, die bleiben. Sie sollen die Sprache lernen und man muss sehen, dass sie Wohnraum kriegen. Ich bin immer wieder erstaunt und voller Respekt, wie es Helferkreisen gelingt, private Wohnungen für einzelne aufzutun. Und dann brauchen sie Jobs. Wichtig ist auch, dass sie in die Gemeinschaft eingebunden werden, das gelingt in den dörflichen Gemeinschaften, etwa auch durch die Vereine, gut.

Olching: GYMNASIUM - Erste Alphabetisierungsklasse

Spracherwerb als wichtigste Voraussetzung Integration: Die erste Alphabetisierungsklasse für flüchtlinge am Gymnasium Olching.

(Foto: Johannes Simon)

Unschöne Schlagzeilen gemacht hat in diesem Jahr der Brucker Schlachthof. Das Landratsamt hat ihn nach Verstößen gegen das Tierschutzgesetz geschlossen. Haben die Kontrollen versagt?

Es ist eine Frage der Wertung. Wenn die Polizei nach dem fünften Einbruch jemanden festnimmt: Ist sie dann erfolgreich oder eben nicht, weil es erst im fünften Versuch gelungen ist? Es wird so getan, als hätte man den Missständen zugeschaut. Wenn aber ein Kontrolleur kommt, stellt sich keiner hin und tut vor dessen Augen was Verbotenes. Es ist also nicht leicht, Verstöße in diesem Bereich aufzudecken.

Sie hatten gesagt: Wenn man der Ansicht sei, das Tier müsse zu Tode gestreichelt werden, dann sei das Kilo Fleisch nicht für fünf oder sechs Euro zu haben. Ist Ihnen egal, wie ein Tier geschlachtet wird?

Mir liegt das Tierwohl durchaus am Herzen, ich versuche auch beim Einkauf darauf zu achten. Aber es ist scheinheilig, wenn die Menschen ein fertig zubereitetes Grillhähnchen für zwei Euro kaufen und meinen, das sei Bio. Kontrollen sollen darauf achten, ob ein Fehler systembedingt ist, und ihn dann abstellen. Es ist wichtig, Fehler zu minimieren, aber eine fehlerfreie Welt gibt es nicht.

Deutschland hat auch drei Monate nach der Bundestagswahl noch keine Regierung. Fürchten Sie eine neuerliche große Koalition und können Sie sich immer noch über Angela Merkel freuen?

Ich hätte Jamaika gerne gehabt, ein Freund der großen Koalition bin ich nicht. Die bürgerlichen Sozialdemokraten sind mit Frau Merkel ja gut bedient, das macht es für die SPD schwer. Ich glaube dennoch, dass es eine Groko geben wird. Was Angela Merkel angeht: Es ist schwierig, wenn jemand in der Führerscheinprüfung die ganze Zeit gut fährt, aber dann am Ende bei Rot über die Ampel. Sie hat in vielen Teilen hervorragende Politik gemacht und hält Europa zusammen. Aber ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich ihre Flüchtlingspolitik für dramatisch verfehlt halte. Das ist ein Fehler, der nicht aufgearbeitet ist und der uns nachhaltig fordert. Bei einem Wahlergebnis von 33 Prozent haben halt 67 Prozent nicht Merkel gewählt, das muss man analysieren.

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