SZ-Adventskalender: Armut im Alter:Jahre der Überforderung

Altersarmut, 2015

Viele Seniorinnen und Senioren, die von Altersarmut betroffen sind, leben mit Einschränkungen. Gespart wird oft beim Essen, etwa mit Lebensmitteln vom Discounter oder von den Tafeln.

(Foto: Catherina Hess)

Krankheit, Schicksalsschläge, Scheidung. Ingrid Hiller kann von der Erwerbsminderungsrente nicht leben

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Eine der großen Ängste von Ingrid Hiller (Name von der Redaktion geändert) ist, dass ihre provisorische Zahnprothese eines Tages bricht. Fünf Jahre ist das Teil, das ihre Schneide- und Eckzähne ersetzt, nun alt und wenn es schließlich verschlissen sein wird, wird Ingrid Hiller nicht genug Geld haben, um einen Ersatz anfertigen zu lassen. Die 58-Jährige lebt nach einem Schlaganfall von ihrer Erwerbsminderungsrente. 808 Euro hat sie monatlich zur Verfügung, nach Abzug der Fixkosten bleiben ihr 108 Euro zum Leben. Davon so viel zur Seite zu legen, dass sie endlich ein dauerhaftes Implantat bezahlen kann, ist unmöglich. Deshalb möchte der SZ-Adventskalender Ingrid Hiller unterstützen.

Es war nicht immer so, dass Ingrid Hiller mit so wenig Geld auskommen musste. "Uns ging es früher sehr gut", erzählt sie. Mit ihrem Mann und drei Kindern lebte sie in einem geräumigen Haus. Der Mann war Haupternährer, sie selbst arbeitete halbtags bei einer großen Firma. "Ich habe meine Mutter damals schon gepflegt", erzählt sie, als schließlich 2001 ihr Mann einen Herzinfarkt erlitt. Für Ingrid Hiller brachen sechs schwere Jahre an. Abwechselnd erlitten ihre Mutter und ihr Mann in dieser Zeit noch weitere Infarkte. "Unser Haus war wie ein Krankenlager. Immer der, dem es besser ging, hat sich um den anderen gekümmert", erzählt sie. Auch sie selbst hatte zu diesem Zeitpunkt gesundheitlich bereits mit einigem zu kämpfen: Wiederkehrende Scherzen plagten sie, immer wieder erlitt sie epileptische Anfälle. "Aber in der Not vergisst man sich selbst", sagt die Frau, in deren Augen immer ein Hauch von Traurigkeit liegt. Als feststand, dass ihr Mann nicht mehr für den Unterhalt der Familie sorgen konnte, nahm sie zwei zusätzliche Jobs neben ihrer Halbtagsstelle an. "Weil wir gedacht haben, wir können es noch irgendwie retten", sagt sie. Aber als die Rechnungen immer mehr wurden, Strom und Wasser schließlich abgestellt wurden, musste sie der Realität ins Auge blicken. "Das Haus ging letztendlich an die Bank", sagt sie.

In dieser Zeit verliert sie auch ihre Mutter, nach ihrem fünften Herzinfarkt. Blickt sie heute zurück, sieht Ingrid Hiller sich selbst vor ihrem inneren Auge als eine Art Roboter. "Ich habe einfach weiter funktioniert", sagt sie. "Heute weiß ich, dass man mit sich selbst achtsamer sein muss." Eine Erkenntnis, die sie teuer bezahlen musste. 2007 begannen sie extreme Kopfschmerzen zu plagen, nach und nach kamen Probleme beim Sehen hinzu. "Ich war so in meinem Rhythmus, dass ich nicht gemerkt habe, dass es immer schlimmer wird", erinnert sich Ingrid Hiller. Bis ihr Körper nicht mehr mitmachen wollte und sie einen schweren Schlaganfall erlitt.

Wenn die 58-Jährige heute sagt: "Ich hatte noch Glück im Unglück", ist das keinesfalls zynisch gemeint. Auch wenn bei ihrer Einlieferung ins damals neu eröffnete Schlaganfallzentrum auch noch ein Aneurysma, eine Aussackung eines Blutgefäßes, das leicht reißen kann, entdeckt wurde. Wäre das Aneurysma in ihrem Kopf nicht entdeckt worden und wäre es gerissen, es hätte schwere Gehirnschäden verursachen oder Ingrid Hiller das Leben kosten können. "Plötzlich ging alles Schlag auf Schlag" sagt sie. Damit das Aneurysma operiert werden konnte, mussten ihr sofort vier Zähne gezogen werden, so dass die Ärzte die betroffene Stelle gut erreichen konnten. Die Not-OP überstand sie gut, dennoch plagen sie heute noch viele verschiedene Beschwerden. Aufgrund einer chronischen Krankheit, die später diagnostiziert wurde, leidet sie heute unter ständigen starken Schmerzen im ganzen Körper. Und aufgrund der jahrelangen Belastung durch Krankheit, Geldnot und der Schicksalsschläge, die sie durchleben musste, zerbrach letztendlich nach 35 Jahren auch ihre Ehe. "Durch die Überforderung kam es dann auch zu häuslicher Gewalt", sagt Ingrid Hiller. "Das war dann der Schluss. Aber für mich als Familienmensch war das sehr schwer", sagt sie.

Auch heute noch fällt es der 58-Jährigen schwer, über das, was sie erlebt hat, zu sprechen. Seit Jahren leidet sie unter schweren Depressionen und hat sich stark aus ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen. Trotz allem versucht sie, sich immer wieder an das Positive in ihrem Leben zu erinnern. Ihre drei Kinder etwa, die alle auf eigenen Beinen stehen, auf die ist sie sehr stolz. "Wenigstens hat man da ein bisschen was richtig gemacht", sagt sie.

Ein Lichtblick sei es für sie, wenn ihre Kinder zu Besuch kommen und sie gemeinsam musizieren. Als sie davon erzählt, wird ihre Gestik lebhaft, ihre Augen strahlen. Mit Instrumenten vom Flohmarkt werden dann Lieder aus alten Zeiten, von den Beatles oder den Bee Gees gespielt. "Das ist etwas, was einen wieder munter macht in schweren Zeiten", sagt sie. Das sei immer so gewesen und wenn sie es sich leisten könnte, würde sie gerne viel öfter auch in Live-Konzerte ihrer Lieblingsmusiker gehen, einmal Peter Maffay oder Sarah Connor sehen.

Ein besonders schöner Moment sei für sie gewesen, als sie auf ein Benefiz-Konzert des Inklusionschores "Oh Happy Day" eingeladen wurde. "Das stehen teilweise schwerkranke Menschen - noch viel kränker als ich - und die haben so etwas starkes auf die Beine gestellt", erzählt sie. Das Konzert habe sie sehr gerührt. "Da bin ich heimgegangen und habe mich gefragt: Sind das überhaupt Probleme?", sagt sie über ihre eigene Geschichte.

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