Wenn Kinder zu früh auf die Welt kommen:Eine Handvoll Leben

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Manche Frühchen wiegen nur 500 Gramm: Wenn Kinder zu früh auf die Welt kommen, müssen Ärzte medizinische Präzisionsarbeit leisten - und die Eltern wochenlang ums Überleben ihrer Winzlinge zittern. Ein Besuch auf der Perinatalstation im Krankenhaus Harlaching.

Stefan Mühleisen

Der Alarm bringt Stefanie Lohöfer schon lange nicht mehr aus der Ruhe. Ein rhythmischer Warnton piepst plötzlich, sofort eilt eine Schwester herbei und drückt eine Taste auf dem Monitor. Ein kurzer Blick auf die alternierenden Zacken auf dem Bildschirm: Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Herz- und Atemfrequenz. Doch Luca schnauft, so gut er eben schnaufen kann. Die Haut ist rosig, er strampelt sogar ein wenig. Offenbar ist nur die Sonde am Bein verrutscht. Es ist ja nur so dünn wie der kleine Finger eines Erwachsenen.

Fragiles Leben: Auf der Perinatalstation des Harlachinger Krankenhauses bemühen sich Chefarzt Walter Mihatsch und sein Team um das Leben von Frühgeborenen wie dem kleinen Luca, der mit 700 Gramm Körpergewicht auf die Welt kam und lange im Brutkasten verbringen muss. (Foto: Claus Schunk)

Stefanie Lohöfer streichelt Lucas Kopf, der gerade einmal ihren Handteller ausfüllt. Sie lächelt die Krankenschwester schweigend an. Sieben Wochen zittert die 34-Jährige jetzt schon um Lucas fragiles Leben, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Die junge Mutter weiß inzwischen genau, auf was sie achten muss - und sie weiß, wie es um ihren Sohn steht: Er hat das Schlimmste hinter sich. "Am Anfang wog er nur 700 Gramm. Vorgestern war er bei 1830", erzählt Stefanie Lohöfer.

Luca kam als winziger Mensch zur Welt, als Frühgeborenes in der 25. Woche. Dass er noch lebt, ist heutzutage kein Wunder mehr, sondern ein Verdienst der modernen Neugeborenen-Medizin, der Neonatologie. Seit Ende der 80er Jahre werden in ganz Deutschland sogenannte Perinatalzentren eingerichtet, wie auch am Klinikum Harlaching eines existiert. Das sind organisatorische Zusammenschlüsse aller geburtsmedizinisch relevanten Bereiche unter einem Dach - von der Pädiatrie, Gynäkologie und Intensivmedizin über Neurologie und Chirurgie bis zur Anästhesie und psychosozialen Beratung.

Dennoch ist es immer noch eine große Herausforderung für Ärzte und Pflegepersonal, diese so erschreckend kleinen Kinder ins Leben zu retten. Präzision rund um die Uhr ist geboten in einem Perinatalzentrum wie in Harlaching, einem der größten seiner Art in Bayern. Denn der Tod könnte sich mit jedem Alarmton vom Überwachungsbildschirm ankündigen. "Dann stirbt man jedes Mal ein bisschen mit", sagt Walter Mihatsch.

Er ist Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin im Harlachinger Klinikum - und damit auch verantwortlich für die Frühchenversorgung. Gerade führt er die Membran seines Stethoskops über das kleine Brüstchen von Luca. Der Mediziner lächelt: Das Herz des kleinen Menschleins schlägt normal. Dann fasst Mihatsch behutsam an die Miniatur-Händchen. Luca spreizt die Fingerchen. Arzt und Mutter grinsen sich an. "Gute neurologische Entwicklung", stellt der Arzt zufrieden fest.

Schrecklich für das ganze Team

Es ist nicht nur die Freude des Profis über den therapeutischen Fortschritt. Dem schlaksigen 50-Jährigen mit dem Spitzbubengesicht sieht man die menschliche Erleichterung darüber an, dass sein kleiner Patient auf dem besten Weg ist. Seit 20 Jahren arbeitet Mihatsch, der selbst vierfacher Vater ist, als Intensivmediziner für Neugeborene. Viele Kinder hat er in dieser Zeit sterben sehen, weil er ihnen nicht helfen konnte.

"Es ist schrecklich, gerade wenn man selbst Kinder hat", sagt der Arzt. Schrecklich für das ganze Team. Denn alle fragen sich dann, ob sie das Beste gegeben, sie nicht doch irgend einen Fehler gemacht haben. Dazu kommt die qualvolle Ahnung, dass dem kleinen, zerbrechlichen Patienten andernfalls möglicherweise ein Leben mit schweren Behinderungen bevor gestanden hätte. "Manchmal stellt sich dann die Frage, ob das Sterben nicht besser war als das Leben", seufzt Walter Mihatsch.

Frühgeborene sind Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden. Betroffen sind sechs Prozent aller Geburten in Deutschland. Bei einem Prozent dieser Kinder handelt es sich um extrem unreife Neugeborene, sie kommen manchmal schon vor der 24. Schwangerschaftswoche und mit weniger als 1500 Gramm Gewicht auf die Welt.

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Meistens ist der Grund eine Infektion, etwa des Gebärmutterhalses. Vor noch nicht allzu langer Zeit sind die meisten Frühchen als Fehlgeburten gestorben. Heute überleben neun von zehn Kindern. Auch extreme Winzlinge mit 500 Gramm Lebendgewicht können sich normal entwickeln. Allerdings: Die Organe der zarten Babys sind nicht voll ausgebildet, das Immunsystem ist äußerst schwächlich. Es drohen Darmfehlbildungen, Hydrozephalus (landläufig als "Wasserkopf" bezeichnet), Chromosomenerkrankungen.

Für die Ärzte heißt das: Absolute Akribie ist nötig, und zwar schon vor der Geburt. Stefanie Lohöfer, die junge blonde Frau mit dem freundlichen Lächeln, war im sechsten Monat schwanger, als sie leichte Blutungen bekam. Sie ging zu ihrer Frauenärztin in Ebersberg. Die konnte nichts Eindeutiges feststellen, ließ sie aber sicherheitshalber mit einem Rettungswagen nach Harlaching bringen.

Die Fassungslosigkeit blitzt noch heute in Lohöfers Augen auf, wenn sie von der Situation im Kreissaal erzählt: Die Kardiotokografie-Untersuchung (CTG) zeigte einen zu langsamen Herzschlag bei ihrem Baby, die Versorgung im Mutterleib funktionierte nicht. "Das Kind war am Sterben", erinnert sich Mihatsch. Aus heiterem Himmel stand für Stefanie Lohöfer eine Notoperation an.

Und dann lag da dieser schmächtige Säugling im Brutkasten, dem sogenannten Inkubator. Dünne, runzlige Haut; das Köpfchen so groß wie eine Orange, der Mund ein kleines Knopfloch. Ein Gewirr aus Kabeln und Infusionsschläuchen, ein Monitor mit zackigen Kurven, der manchmal bedrohlich piepst. "Er war so klein, so filigran", sagt Lohöfer leise. Sie kann ihre Ohnmacht kaum in Worte fassen, Chefarzt Mihatsch kann das besser: "Die Mütter sind traumatisiert und grübeln intensiv darüber nach, ob es an ihnen lag." Die Schuldgefühle seien manchmal erdrückend, viele säßen dann hilflos vor dem Inkubator. "Sie sind machtlos und haben große Angst", weiß Mihatsch.

"Er ist ein Kämpfer"

So ergeht es den meisten Eltern der bis zu 60 extrem Frühgeborenen, die jährlich auf der pädiatrischen Intensivstation in Harlaching die ersten Wochen ihres Lebens verbringen. Viele Mütter und Väter stehen das nur mit psychosozialer Betreuung durch - ein Service, den das Perinatalzentrum in Harlaching auch für die Zeit nach der Entlassung aus der Klinik anbietet.

Das größte Problem der Frühchen sind deren unausgereifte Lungen; ein neues Medikament sowie die schon im Mutterleib applizierte Lungenreifungsbehandlung brachten den Durchbruch. So können die Winzlinge mittlerweile zumeist selbst Luft holen und müssen nicht künstlich beatmet werden. Für Mihatschs Team gibt es dennoch genug zu beachten: flüssige Ernährung und Medikamente per Infusion genau austarieren, um das schwache Menschlein nicht zu überlasten; dazu Temperatur konstant halten und vor allem keine Keime einschleusen.

Geht alles gut, läuft es so wie bei Luca und seiner Mutter: Das Kind wächst stetig. "Er ist ein Kämpfer", sagt Stefanie Lohöfer stolz. Jeden Tag hat sie mit ihrem Sohn verbracht, ist abends heimgefahren, um auch mal Abstand zu haben. Die Ärzte und das Pflegepersonal sind zu Wegbegleitern geworden. Eine gemeinsame Gratwanderung mit - vorerst - gutem Ausgang.

© SZ vom 07.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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