SZ-Serie: Altes Handwerk, heute noch gefragt:Herr der 700 Garne

Tobias Gattermann fertigt in seiner Posamenten-Manufaktur edle Kordeln, Quasten und Borten. Zu seinen Kunden gehört auch die Queen

Von Andrea Schlaier, Westend

Von irgendwoher hört man ein Wummern, Lieferwagen rangieren im Innenhof des verkanteten Betongebildes, irgendwo im geschäftigen Organismus des Gewerbehofs Westend führt eine Treppe in den zweiten Stock zum Labyrinth aus langen, grauen Gängen. Tobias Gattermann öffnet die schwere, gelbe Eisentür von innen, lächelt ein Willkommen, und hinter ihm tut sich ein Raum auf. Was heißt Raum? Eine andere Zeit. Fadenspulen, soweit das Auge reicht. In deckenhohen, schlichten Holzregalen beziehen sie nahezu soldatisch Stellung. Ein Spalier aus mehr als 700 Farbnuancen: Königsblau neben Ultramarin und Flieder, Pflaume neben Petrol, Grün mit Blaustich neben Blau mit Aubergine. Ein Zwirn-Reigen aus Viskose, Baumwolle, Seide, Gold und Silber. Ein Rausch. Am Fuße des Garne-Bords surrt an vielen Tagen das alte, hölzerne Spulrad. Wer so weit gekommen ist, wundert sich nicht mehr, dass in diesem Reich die vergangenen 15 Jahre unter anderem Quasten für Kutschen des englischen Königshauses modelliert oder die Originalbettdecke von Kaiserin Sisi wieder hoffähig gemacht worden ist. Gattermann betreibt hier seine "Posamenten-Manufaktur". Eine Kunsthandwerkstatt, wie es sie bundesweit nur drei Mal gibt.

Mit wohlwollendem Schmunzeln kommentiert Gattermann, ein sehr langer Mensch in Wollpulli und Jeans, den augenreibenden Blick der Gäste, die zum ersten Mal in sein Reich eintreten. "Nein, wir sind kein Museum, auch wenn's so aussieht." An einer Werkbank vor dem Fenster sitzen ein Mann und eine junge Frau, den Rücken über ein Fädchen in ihrer Hand tief gebeugt. Mit spitzen Fingern, ohne aufzuschauen, drehen sie streichholzlange Goldfransen. Eine, noch eine und immer so weiter. Würde gleich die Tür aufspringen und Rumpelstilzchen auf der Suche nach der Müllerstochter hereinhüpfen, würde man sich nicht wundern. Geduld und Gefühl bis in die Fingerspitzen ist eine der Tugenden, die man für diesen Beruf mitbringen sollte, der neuerdings als "Textiler Gestalter im Handwerk" bezeichnet, was früher der "Posamentier" griffig auf den Punkt brachte.

Der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. liebte die spielerische Opulenz des uralten Handwerks, die seidig schimmernden Quasten am Himmelbett, aufwendig gestaltete Raffhalter an schweren Vorhängen, güldene Borten an samtenen Fauteuils. Der Begriff ist dem französischen "passement" entlehnt, er bezeichnet Schmucktextilien wie Fransenborten, Kordeln, Quasten oder besponnene Zierknöpfe. So klein die Preziosen sind, die an unzähligen Stellagen und Vitrinen in Gattermanns Werkstatt vielfarbig schimmernd baumeln, so hochkomplex ist die Kunst, sie herzustellen. In einer einzigen Quaste stecken acht bis zehn Stunden Arbeit, alles entsteht in der Werkstatt - bis auf die gedrechselten oder gar geschnitzten Holzformen, die von einem Drechsler angefertigt werden. Auf dem großen, 85 Jahre alten Handwebstuhl, einem Streben-Wesen aus Holz, gleich neben der Eingangstür werden in Kette und Schuss Borten, Fransen, Crépinen gezaubert oder wie zuletzt Fransen aus echtem Gold für die schweren Vorhänge des kaiserlichen Schlafzimmers im Neuen Palais Potsdam. Der 46 Jahre alte Meister ist in seinem Element: "Da wird zuvor in unserer eigenen Seilerei ein Goldgespinst-Faden, also ein einzelner Faden, in Drehung versetzt und dann am Webstuhl mit vier Stängelchen pro Schusseintrag eingewebt und jedes muss man ein bisschen andrehen." Pro Meter sind das 1300 Stängelchen. So halt wie bei der güldenen Originalquaste 1785.

Hier lustwandelt einer sehr versiert im eigenen Kosmos. Gattermann führt viele Interessierte durch sein produzierendes Museum, Touristen, Nachbarn aus dem Viertel ebenso wie Kunden aus aller Welt. Der gebürtige Münchner hat seinen Beruf unweit von hier gelernt: Bei "Posamenten Müller" an der St.-Paul-Straße. Inspiriert vom Urgroßvater, der Kirchenmaler war, "wollte ich nach der Schule was Künstlerisches machen". Von Bekannten, die im Schloss Nymphenburg in der Gobelin-Manufaktur gearbeitet hatten, wusste er, dass es so einen Beruf gibt. Fertig ausgebildet, machte Gattermann sich selbständig und übernahm 1995 die Posamenten-Werkstatt in Nürnberg, eine der letzten ihrer Art in Deutschland. Nach fünf Jahren zog der Edel-Handwerker mit Quasten und Fäden wieder zurück an die Isar.

Wo genau man sich mit seiner Manufaktur in diesem Metier niederlässt, ist ziemlich unerheblich. Es gibt nationale und internationale Netzwerke aus Restauratoren, etwa von Schlössern und Spezial- Handwerkern. So kommen Gattermann und seine drei Mitarbeiter - darunter ein Lehrling - zu Aufträgen etwa für die Preußische Schlösserverwaltung oder das Bolschoi-Theater, für das sie prunkvolle Quasten zu den schweren Vorhängen gefertigt haben. In den Büchern finden sich Aufträge für die New Yorker Met genauso wie für die Würzburger Residenz. Oft wird nach historischen Vorlagen gearbeitet. "Seidenstoffe werden entsprechend vorgefertigt", sagt Gattermann, "und wir machen dann passend dazu die Details."

Natürlich bediene man auch Privatkunden. Das sind nicht selten vermögende Menschen, die sich von Innenarchitekten Schmuckes für die Villa in Paris fertigen lassen. Aber auch Treppenhandlaufseile für jedermann sind dabei oder handschmeichlerische Fransen-Anhänger für antike Schränke. Ohrschmuck samt Edelsteinen oder Colliers gehören inzwischen zur eigenen Kollektion des Hauses. Dem Herrn der 700 Garne entfährt ein stolzer Lacher: "Mittlerweile haben wir sogar Kundschaft aus Japan, die uns übers Internet entdeckt hat." Anhänger für Handys werden von dort regelmäßig geordert.

Das Höchste für einen Handwerker sei freilich ein Lob der Queen. "Das hat sie uns ausrichten lassen", merkt Gattermann stolz an und zeigt auf eine Darstellung der royalen Kutsche, die gleich bei der gelben Eisentür hängt.

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