SZ-Adventskalender:Im Schockzustand

dpa-Story - Mietmarkt und Datenschutz

Auf dem freien Markt ist die Wohnungssuche für sozial Schwache sinnlos: "Die haben keine Chance", sagt Robert Zellner von der Stadtverwaltung.

(Foto: dpa)

Immer mehr Menschen sind im Landkreis von Obdachlosigkeit bedroht - und wie Simone Berger stoßen sie psychisch an ihre Grenzen. Denn für Geringverdiener sind die Chancen, eine neue Wohnung zu finden, schlecht

Von Gudrun Regelein, Freising

Abhängig von staatlicher Unterstützung wollte Simone Berger (Name geändert) eigentlich nie sein. Die alleinerziehende Mutter versuchte immer, mit verschiedenen Mini-Jobs den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu verdienen. Irgendwann aber verlor sie einen ihrer beiden Jobs - und das Geld wurde immer knapper. Sie begann, ihre Miete nicht mehr zu bezahlen. Die Schreiben und Mahnungen der Vermieterin ignorierte sie monatelang, verweigerte jede Kommunikation. "Sie hat den Kopf in den Sand gesteckt. Hat das Problem einfach verdrängt", sagt Ninja Flux von der Fachstelle zur Verhinderung von Obdachlosigkeit (FOL) der Diakonie Freising. Bis das nicht mehr ging.

Tausende Euro Mietschulden hatten sich angehäuft, irgendwann kam die fristlose Kündigung, dann die Räumungsklage. Aktiv wurde Simone Berger aber erst, als sich das Jugendamt einschaltete und ihre Tochter in eine Pflegefamilie kam. "Das war der Auslöser: Erst dann hat sie sich Hilfe gesucht", sagt Flux. Inzwischen hat die Frau beim Jobcenter Anträge gestellt, um Leistungen beziehen zu können. Falls das Jobcenter die Mietschulden übernimmt, kann sie in ihrer Wohnung bleiben, noch wartet die Vermieterin - falls nicht, muss sie in die Notunterkunft der kleinen Gemeinde, in der sie lebt, umziehen. "Die Frau befindet sich in einem Schwebezustand. Sie ist psychisch an ihre Grenzen gestoßen", sagt Flux. Die drohende Obdachlosigkeit löse extreme Ängste aus. "Das bedeutet den Verlust des vielleicht letzten Ortes, an dem man sich noch sicher gefühlt hat", schildert Flux. "Das zieht einem den Boden unter den Füßen weg und löst bei vielen einen Schockzustand aus."

Viele reagierten in einer solchen Situation kopflos - nur die wenigsten könnten rational damit umgehen. In der FOL kümmert sich Ninja Flux um betroffene Menschen im Landkreis. Deren Zahl wachse, "die Wohnungslosigkeit ist auch ein Landkreis-Problem", sagt sie. 135 Fälle wurden im vergangenen Jahr neu aufgenommen - darunter waren knapp 20 Hilfesuchende aus der Stadt Freising, denen die FOL eine Erstberatung bietet. Gründe für den drohenden Verlust der Wohnung gibt es viele: Mietschulden oder Eigenbedarfskündigungen beispielsweise. Wohnungslosigkeit betreffe aber nicht nur sozial schwache Menschen, betont Flux. "Das kann jedem passieren." Der Verlust des Arbeitsplatzes, eine lange Erkrankung, eine Scheidung oder auch der Wegfall eines Verdieners in der Familie reiche aus, um die Miete nicht mehr bezahlen zu können. Eine andere bezahlbare Wohnung zu finden, sei in dieser Situation kaum mehr möglich. "Mietraum hier ist unbezahlbar teuer", sagt Flux.

Zu Robert Zellner, dem Leiter des Sozialamts der Stadt Freising, kommen im Jahr etwa 50 von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen. "Die Dunkelziffer ist aber wesentlich höher", sagt er. Sobald vom Gerichtsvollzieher eine Räumung angesetzt wird, erhalte das Sozialamt eine Mitteilung - und versuche, zu den Betroffenen Kontakt aufzunehmen. Viele - er schätzt etwa die Hälfte - aber meldeten sich gar nicht. "Die Menschen sind verzweifelt, die Obdachlosigkeit bedeutet eine existenzielle Bedrohung", schildert der Sozialamtsleiter. Viele - zunehmend mehr - der Klienten seien im Gespräch äußerst aggressiv. "Der Druck auf uns ist enorm", sagt Zellner. Seine Mitarbeiterinnen besuchten mittlerweile alle ein Deeskalationstraining. "Unser Ansatz ist, so früh wie möglich von einem Problem zu erfahren, um handeln zu können", sagt Zellner. Wohnraumerhaltende Maßnahmen hätten immer Vorrang. Nicht immer aber funktioniert das: Die Zahl der Zwangsräumungen steigt: 17 Haushalte mussten im vergangenen Jahr in eine der städtischen Notunterkünfte ziehen.

Auf dem freien Markt aber sei die Wohnungssuche für sozial Schwache sinnlos: "Die haben keine Chance." Derzeit bewerben sich in Freising 222 Menschen um eine der geförderten Wohnungen. Das aber sei nur die Spitze des Eisbergs, man habe auch schon über 600 Anträge gehabt, sagt Zellner. Die Wartezeit auf solche Wohnungen betrage bis zu sieben Jahre. Wenn das Betroffene erfahren, verzichteten viele darauf, einen Wohnberechtigungsschein, der 13 Euro kostet, auszufüllen. Immer mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, ist für Zellner dennoch nicht die Lösung. "Geben Sie mir 600 Wohnungen und wir haben für vielleicht eineinhalb Jahre kein Problem mehr - aber dann fängt alles von vorne an." Eine weitere Verdichtung des Großraums biete langfristig keine Verbesserung. Er könne Betroffenen nur raten, flexibel zu sein, nicht nur in Freising zu suchen. "Die Menschen müssten bereit sein, auch in andere Gebiete, dort, wo es noch preiswerten Wohnraum gibt, zu ziehen."

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