"Streik" in der Notunterkunft:Kleiner Aufstand der Jungen

Jugendliche Flüchtlinge in Bayern

Allein in der Fremde: Für jugendliche Flüchtlinge ist das besonders hart.

(Foto: dpa)

Jugendliche Flüchtlinge haben es mit dem Leben auf engstem Raum besonders schwer. Sie beklagen den Mangel an Privatsphäre und Diebstähle. Zurückziehen können sie sich nur in den Pausen ihres Deutschkurses.

Von Eva Zimmerhof, Freising

Deutsche Kinderlieder dröhnen aus der kleinen Stereoanlage. Sammy (Namen der Jugendlichen geändert) schaukelt auf einer Ikea-Banane und hat dabei ein fast seliges Lächeln im Gesicht. Das Spielgerät im Kinderzimmer des Vereins "Hilfe von Mensch zu Mensch" ist eigentlich zu klein für ihn. Gleich muss er wieder in den Kursraum.

Jeden Tag lernt er dort mit Enthusiasmus Deutsch, manchmal ist er unpünktlich, aber immer da. Nur vergangenen Montag nicht, als die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus der großen Notunterkunft in Freising streikten: wegen der unerträglichen Bedingungen dort, wo sie seit einem Monat untergebracht sind. Sie könnten nicht duschen, ohne dass jemand dabei zusehe, sagen die Jungen.

Vor allem aber könnten sie nicht mit ihren Eltern telefonieren, die tausende Kilometer weit weg sind, weil ihr Taschengeld nicht reiche.

Sammy ist nicht bloß einer von den dreißig, nicht bloß einer von den jugendlichen Flüchtlingen, die in der Notunterkunft mit weiteren 90 Menschen leben und deren Schicksal laut Landratsamt völlig unklar ist. Sammy ist keine Zahl, sondern ein schlaksiger Jugendlicher, nach eigener Aussage 15 Jahre alt, mit dem neugierigen und vertrauensvollen Blick eines Kindes.

Auf dem Teppich neben ihm hockt ein anderer Junge, ganz vertieft in ein Kinderbuch. Intensiv studiert er jede Seite. Vielleicht versucht er Worte zu entziffern, vielleicht ist es die kunterbunte Welt, die ihn fasziniert. Ein Junge ruht sich auf einer Matratze zwischen Kuscheltieren aus.

"Sie genießen es, sich hierhin zurückzuziehen", sagt die Migrationsberaterin des Vereins, Michaela Götz. "Sonst haben sie diese Möglichkeit ja nirgendwo." Seit knapp zwei Wochen kommen zehn Jungen aus der Unterkunft zum Sommerkurs in die Vereinsräume in der Stadt.

Der Kurs gehört zu dem Projekt "K.O.M.M.", das die Jugendlichen auf einen qualifizierten Mittelschulabschluss vorbereitet und dazu soziale Orientierung bieten will. So gehe ein Lehrer, der türkischer Abstammung ist, gelegentlich mit ihnen in die Moschee, erzählt Götz.

Wenn jemand ins Zimmer kommt, strahlen ihm die Jugendlichen regelrecht ihr "Hallo" entgegen. "Sie freuen sich, wenn sie Aufmerksamkeit bekommen", sagt Götz. Im unteren Stockwerk hat es sich eine Gruppe in Sesseln gemütlich gemacht. Auch hier ein strahlendes Lächeln.

Aufgeregt kommt die Deutschlehrerin die Treppe herab: "Jetzt schiebt einer tatsächlich den Bären im Puppenwagen umher." "Mein Baby hat er neulich dazu gesagt", berichtet Götz. Die Frauen müssen schmunzeln, doch Götz beeilt sich hinzuzufügen: "Das wirkt vielleicht absurd, dass 17-Jährige in einem Kinderzimmer sitzen. Aber man muss sich klar machen, dass sie aus ihrem Zuhause herausgerissen wurden. Da, wo sie herkommen, haben sie vielleicht kleine Geschwister, die sie vermissen."

Sie kommen aus Eritrea, Afghanistan und Somalia. Im Unterricht sehen alle gebannt nach vorne, lassen ihre Lehrerin nicht aus den Augen. Die ältere Dame ist eigentlich Sozialpädagogin. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, weil sie fürchtet, dass sie irgendwie "mit diesem Aufstand der Jungen" in Zusammenhang gebracht werden und Ärger mit dem Landratsamt bekommen könnte.

"Das ist eine Kuh. Die Kuh. Muh", sagt die Lehrerin betont. Die Jungen wiederholen, lernen Artikel, Farben, Gegenstände. Es geht um Grundlegendes, wie in einem Kinderbuch, das den Titel "Meine kleine Welt" haben könnte. Für die Jugendlichen müsste es "Meine neue Welt" heißen.

Die Lehrerin braucht Geduld, manchmal wird sie etwas unwirsch, wenn ein Junge falsch antwortet. Dabei hat die Szene das Potenzial, um Regelschullehrern die Tränen in die Augen zu treiben: Alle machen mit, ob mit lauter oder schüchterner Stimme. Keiner sieht gelangweilt aus dem Fenster, alle wollen an die Tafel, jeder will vorlesen. Damit ist Edris jetzt an der Reihe, aber natürlich lesen alle anderen lautstark mit.

Die beiden Mitarbeiterinnen des Vereins räumen ein, dass sie mit den Jugendlichen noch nicht viel kommunizieren können. Mit den Verben haben sie gerade erst angefangen und ohne die ist eine Unterhaltung schwer. Da einige Jungen trotz ihres Eifers offensichtlich Analphabeten sind, werden sie künftig extra unterrichtet.

An diesem Tag ist noch eine weitere Lehrerin, die Farsi spricht, da. Sie übersetzt und die Jungen berichten, was am Montag los war, als Jugendliche in der Notunterkunft den Vertretern des Landratsamtes ihre Forderungen unterbreiteten. "Wir haben da nicht mitgemacht, aber wir wollen auch lieber in einem Haus mit Zimmern wohnen", sagt ein Junge. "Wir möchten unsere Familien anrufen. Wenn es Wlan geben würde, könnten wir uns das teilen."

"Es gibt nur Vorhänge, die uns von den Erwachsenen trennen. Das ist laut und die Älteren streiten dauernd", erzählt der Junge, ein anderer fällt ihm aufgeregt ins Wort: "Wir werden ständig bestohlen." "Mir haben sie das T-Shirt und die Schuhe gestohlen, als ich Fußball spielen war", sagt ein junger Afghane.

Und dann meldet sich noch ein Junge, der leise sagt, er brauche dringend Kleidung, denn er habe nur noch das, was er gerade trage.

"Es ist zwölf Uhr", sagt die Lehrerin. "Es ist zwölf Uhr", wiederholt der kleine Chor. Edris kommt als Erster darauf: "Mittag", sagt er triumphierend und die anderen beeilen sich, es nachzusprechen.

Der Unterricht ist zu Ende und die Jungen benehmen sich mit einem Mal wie ganz normale Jugendliche: Am Fahrstuhl kommt es zu einem kleinen Tumult. Alle zehn versuchen sich gleichzeitig hineinzuquetschen, keiner will alleine zurückbleiben.

Der Verein "Hilfe von Mensch zu Mensch" bietet neben kostenlosen Sprachkursen inklusive Kinderbetreuung eine Migrationsberatung an. Aktuell sucht der Verein ehrenamtliche Lehrer sowie Möbelspenden für die Räume in Freising (Telefon: 0 89/1 89 17 98 62).

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