Selbst für Lehrer kein Tabu mehr:Die menschliche Haut als Leinwand

Benni lässt sich tätowieren

Der ungarische Tätowierer Jácint Szabó studierte einst Kunst und arbeitet heute zeitweise in Freising.

(Foto: lukasbarth.com)

Tattoos sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, obwohl das Stechen mit der Nadel schmerzhaft ist. Die Motivwahl sollte gut überlegt sein, denn noch aufwendiger ist die Prozedur, Jugendsünden zu entfernen.

Von Benjamin Reibert, Freising

Eine achteinhalbstündige Prozedur voller Schmerzen hat eine 40-Jährige aus dem Landkreis Freising freiwillig über sich ergehen lassen, als sie sich alle acht Gesichter ihrer Kinder auf dem linken Arm verewigen ließ. "Sie hat nicht ein einziges Mal geklagt", erzählt Jácint Szabó. Er kennt sich mit Schmerzen aus. Zu seinem Arbeitsmaterial zählt nicht etwa der feine Pinsel, sondern eine spitze Nadel. Seine Leinwand ist die menschliche Haut. Er ist Tätowierer.

Der Ungar ist ein stattlicher Mann, er trägt eine bunte Sportjacke und eine tief ins Gesicht gezogene schwarze Kappe. Er wirkt wie ein jung gebliebener Hip-Hopper. Der aus einer kleinen Stadt im Südwesten Ungarns stammende Künstler sticht seit 18 Jahren Motive unter die Haut. "Davor habe ich Kunst studiert", sagt Jácint Szabó und macht sich ans Werk. Sein Kunde hat sich ein Motorrad und eine Weltkarte von dem 39 Jahre alten Gasttätowierer gewünscht.

"Ich mag es, wenn man etwas Emotionales mit einem Tattoo verbindet"

Mehrere Wochen im Jahr arbeitet Szabó im Freisinger Tattoostudio von Tanja Mayer an der Heiliggeistgasse. "Zurzeit stechen wir zu fünft im Wechsel", erzählt die gebürtige Moosburgerin. Alle seien als selbständige Tätowierer tätig. Sie selbst arbeite gerne realistisch: "Ich mag es, wenn man etwas Emotionales mit einem Tattoo verbindet." Vor einigen Wochen sei ein Vater bei ihr gewesen, der sich ein von Händen umschlossenes Herz als Erinnerung an seine verstorbene Frau stechen ließ. Er sei danach glücklich gewesen. "Da merkt man, dass man etwas Gutes mit einem Tattoo bewirken kann", sagt sie. Man spüre bei solchen Terminen die Bindung und Tiefe, die ein Tattoo auslösen könne.

Benni lässt sich tätowieren

Zeitraubend und auch schmerzhaft: Ein Kunde von Jácint Szabó lässt sich ein Motorrad auf den Arm tätowieren, andere die Gesichter ihrer Kinder.

(Foto: lukasbarth.com)

Als die ersten stechenden Schmerzen kommen, versucht Szabó seinen Kunden abzulenken. "Meine Frau arbeitet in einer Finanzbehörde", sagt er. Der Kunde staunt, das hat er nicht erwartet. "Wir haben zwei Söhne und sind eine ganz normale Familie." Einige Menschen würden so etwas von einem Tätowierer, der oft mit Vorurteilen ("ich sei kriminell, deale mit Drogen und werde oft von der Polizei kritisch beäugt") konfrontiert wird, nicht erwarten. Während der fünfstündigen Sitzung belehrt Jácint Szabó seinen Kunden immer wieder, wie wichtig es sei, das richtige Motiv auszuwählen. "Du hast das bis an dein Lebensende", trichtert er ihm ein. Es gebe Menschen, ergänzt Tanja Mayer, die kämen ohne Motiv-Idee in ihr Studio. "Die schicke ich meist nach Hause, damit sie sich mit sich selbst auseinandersetzen und sich Gedanken machen, was zu ihnen passt." Besonders junge Menschen könnten es bereuen, sich unüberlegt ein Tattoo stechen zu lassen. "Viele aus dem Landkreis kommen dann mit Änderungswünschen", berichtet Tanja Mayer.

Die Entfernung eines Tattoos ist eine unangenehme Prozedur

Wenn ein solches Tattoo doch mal verschwinden soll, ist Nina Strehl aus Freising eine gefragte Frau. Die 40-Jährige beschäftigt sich seit neun Jahren mit der Entfernung von Tattoos. "Der Hauptgrund für die Entfernung sind meist Jugendsünden", erzählt sie. Das Erstgestochene sei das häufigste, das sie entfernen müsse. Besonders Polizisten oder Flugbegleiter kämen zu ihr in die Praxis, um Tattoos im sichtbaren Bereich zu entfernen. Die Mitarbeiter ihrer Praxis haben alle eine medizinische oder medizinisch-kosmetische Grundausbildung absolviert und sind Laserschutzbeauftragte. Zehn bis zwölf Behandlungen seien für das Entfernen typisch: "Es können aber auch mehr oder weniger werden." Bei einer Entfernung wird zunächst das Tattoo abfotografiert, die Haut desinfiziert und anschließend gelasert.

"Es ist eine unangenehme Prozedur", gesteht Nina Strehl. Mit Hilfe des Lasers werden die Farbpartikel des Tattoos in kleine Teile aufgesprengt und diese vom Lymphsystem abtransportiert. Der Schmerz bei der Entfernung sei mit einem heißen Gummi zu vergleichen, der auf die Haut schnalze.

Dass auch Menschen in verantwortungsvollen Positionen ein sichtbares Tattoo tragen, beweist eine Lehrerin aus Freising, die in einem Nachbarlandkreis arbeitet. Vor 13 Jahren habe sie sich tätowieren lassen: An ihrem Arbeitsplatz habe sie bislang keine Probleme gehabt. "Auch von höherer Seite nicht", sagt sie, "wenn ich darauf angesprochen werde, dann in einer offenen Art. In der Öffentlichkeit ernte ich dafür hin und wieder von älteren Damen irritierende Blicke." Ihre Schüler und deren Eltern reagierten eher positiv auf ihr Tattoo. "Ich erkläre ihnen oft, dass man sich nicht aus der Laune heraus tätowieren lassen sollte", erzählt sie. "Ich kann es ihnen glaubhaft rüberbringen." Ihr Tattoo habe sie bewusst bei einem Tätowierer stechen lassen, "bei dem ich sicher war, dass er gut ist". Von Tätowierern wünscht sie sich einen verantwortungsvolleren Umgang - speziell bei unter 18-Jährigen - nicht allein der kommerzielle Aspekt solle im Vordergrund stehen.

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