Der Präzedenzfall Evans I.:Leben auf der Wartebank

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Vor zwei Jahren war ein 32-jähriger Nigerianer fast ein Medienstar, weil ihm die Kirche in Freising Asyl gewährte. Inzwischen ist er wieder ein normaler Asylbewerber und wird als politisch Verfolgter wahrscheinlich anerkannt.

Von Clara Lipkowski, Freising

Anfang Mai waren plötzlich die Reporter da. Zeitungen berichteten, die Tagesschau interviewte ihn, die Bild zeterte. Deutschlandweit war sein Gesicht im Fernsehen zu sehen. Evans I. aus Freising war zum Präzedenzfall geworden. Er wurde "der Mann mit dem Kirchenasyl". "Stressig war das", meint er heute. Inzwischen hat sich die Aufregung um seine Person gelegt. Er wurde damals ja auch vor Gericht freigesprochen.

Knapp drei Monate lebte Evans I. aus Nigeria, der nicht mit vollem Namen in der Zeitung erscheinen will, 2016 auf einem Kirchengelände in Freising im Asyl. Eigentlich sollte er nach Italien abgeschoben werden, weil er dort als Flüchtling erstmals europäischen Boden betreten hatte und in Deutschland abgelehnt worden war. Nach Italien wollte er aber auf keinen Fall zurück. "Das Leben, was ich dort geführt habe, wollte ich nie wieder führen", sagt er. Katharina Capric vom Asylkreis Freising begleitet ihn seit mehreren Jahren. Sie sagt: "Er kam aus einem Lager auf Sizilien mit 5000, 6000 Flüchtlingen. Man hatte ihm vielleicht 100 Euro Bargeld in die Hand gedrückt und weggeschickt. Um zu überleben, gibt es da drei Möglichkeiten: betteln, sich prostituieren oder kriminell werden."

Der Asylkreis war es dann auch, der ihm das Kirchenasyl vermittelte. Die Staatsanwaltschaft aber verklagte ihn: Er habe sich dort illegal aufgehalten, lautete der Vorwurf, um der Abschiebung zu entgehen. Das mit der Abschiebung stimmt. Dass er dort illegal war, sah das Oberlandesgericht (OLG) München nicht so: Die Kirche hatte sich in der Sache korrekt verhalten: die Aufnahme sofort dem Bamf gemeldet und ein umfassendes Dossier über Evans I. geschickt. Das Amt wusste, wo er sich aufhält, und stimmte zu, den Fall erneut zu prüfen, nachdem er als Härtefall eingestuft worden war. Darum, stellte das Gericht später fest, hätte Evans I. für diesen Zeitraum eine Duldung ausgesprochen werden müssen. Er war also nicht illegal in Freising. Das Urteil ging aber viel weiter und damit auch das Interesse der Reporter.

Evans I. redet wenig von sich aus, mehr erzählt er, wenn Katharina Capric ihn ein bisschen ermuntert. Besonders vor und nach der Verhandlung sei das Medieninteresse groß gewesen. Aber schlimmer als der ganze Rummel war für ihn die Zeit vor dem Kirchenasyl, als er erfuhr, er werde abgeschoben, innerhalb einer "Überstellungsfrist" von sechs Monaten. Wann genau, wusste er nicht. Diesen Druck habe er nicht ausgehalten, sagt Capric. Und Evans I. sagt: "Ich habe eine schwere Depression bekommen." Nach einem Selbstmordversuch kam er zwei Monate in eine Klinik nach Taufkirchen. Dann kam das Kirchenasyl.

"Man hat mir schon gesagt, es wird nicht leicht. Aber ich habe mich bewusst dafür entschieden. Fast drei Monate habe ich in einem Raum gelebt. Ich bin den Helfern sehr dankbar, dass sie mich besucht haben, damit ich nicht immer alleine bin. Sie haben mir einen Fernseher gebracht und eine Spielkonsole. Ich habe immer gedacht, bald ist es vorbei. Ab und zu war ich in der Messe, lernte ein wenig Deutsch. Aber wenn du das Haus, eigentlich das Zimmer, nicht verlassen kannst - das ist fast wie im Gefängnis."

Mai 2018. Kurz nach dem Urteil, dem Freispruch für Evans I., dreht das Fernsehen mit ihm auf dem Freisinger Kirchengelände. Später titeln Medien: "Kirchenasyl ist kein Abschiebungshindernis". Dies hatte das OLG erstmals grundsätzlich festgehalten und damit einem vorherigen Urteil des Freisinger Amtsgerichts widersprochen. Zudem entschied das OLG, dass Kirchenasyl straffrei bleibt, wenn Kirche und Bamf zusammenarbeiten.

Die Tragweite des Urteils beeindruckt Evans I. nicht sehr, seine Sorgen sind andere. "Für mich ist das nicht so wichtig. Für mich ist wichtig, wann ich arbeiten kann." Er lebt nun vier Jahre in Deutschland. Arbeiten oder eine Ausbildung machen darf er nicht. Einen Integrationskurs darf er nicht besuchen. Sein Asylverfahren läuft.

"Am letzten Tag des Kirchenasyls haben wir ihn mit dem Auto abgeholt und sind direkt in die Erstaufnahme nach München und dann weiter zum Bamf, um seinen neuen Asylantrag zu stellen", sagt Capric, "dann haben wir ihn wieder in der Erstaufnahme abgeliefert". Er blieb wenige Stunden und kam erst für knapp zwei Monate in die Bayernkaserne und wurde dann in den Landkreis Freising "transferiert". Heute lebt er in Dietersheim.

Den neuen Asylantrag lehnte das Bamf ab, Evans I. klagte. Da er als Härtefall eingestuft wurde, hat er laut Capric heute gute Chancen, trotzdem eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, etwa 80, 90 Prozent, sagt sie. Die Anerkennungsquote für Nigerianer liege sonst bei etwa sechs Prozent.

Evans I. wartet jetzt. "Fälle von Nigerianern wurden noch gar nicht verhandelt", sagt Capric. Bis zum Gerichtstermin können Monate vergehen. Das Warten ist für ihn die größte Belastung. Evans I. ist in sich gekehrt, er spricht leise, undeutlich, lächelt selten. Könnte er seine Identität nachweisen, dürfte er wahrscheinlich arbeiten. "Aber wie soll das gehen?", fragt Capric, "er ist vor neun Jahren geflohen, weil er politisch verfolgt wurde, von staatlichen Akteuren. Er kann nicht einfach in die nigerianische Botschaft gehen und einen Pass beantragen."

Warum er verfolgt wurde, sei keine Sache für die Zeitung, sagt Evans I. Er sagt nur, dass er nach Libyen ging, Arbeit als Schweißer fand, das Land aber 2011 verlassen musste, weil Krieg ausbrach. "Ich glaube, heute würde es mir dort besser gehen. Ich wollte ja gar nicht nach Europa. Dass ich mit 32 Jahren so lebe, hätte ich nie gedacht."

© SZ vom 09.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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