Lernen, rechtzeitig loszulassen:Pflege an der Grenze der Belastbarkeit

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Die Pflege alter Menschen kostet viel Zeit und Kraft. (Foto: dpa)

Angehörige sind mit der Betreuung anderer Familienmitglieder oft überfordert. Marianne Lieb von der Arbeiterwohlfahrt rät, sich zumindest für ein paar Stunden in der Woche eine Auszeit zu nehmen.

Von Gudrun Regelein, Freising

Bereits heute leben etwa 1,2 Millionen demenzkranke Menschen in Deutschland - die meisten von ihnen, zwei Drittel, werden zu Hause von ihren Angehörigen betreut. Laut einer Forsa-Studie überfordert diese Situation viele pflegende Angehörige: 40 Prozent von etwa 1000 Befragten klagten über depressive Phasen. "Die Betreuung eines Menschen mit Demenz fordert sehr heraus", sagt auch Marianne Lieb von der Arbeiterwohlfahrt in Moosburg. Denn neben einer körperlich anstrengenden Pflege müsse zusätzlich noch ein hohes Maß an psychosozialer Betreuung geleistet werden. "Diese schwierige Situation überfordert viele und lässt sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kommen."

Gemeinsam mit Edith Wesel von der Caritas Freising berät und betreut Marianne Lieb in der Fachstelle für pflegende Angehörige und in der Koordinierungsstelle für niedrigschwellige Betreuung betroffene Familien. Deren Lebenspläne zerplatzten auf einmal, sagt Edith Wesel. Erst vor kurzem war ein etwa 60-Jähriger bei ihr, der gemeinsam mit seiner Tochter seine demente Frau pflegt. Eigentlich wollte das Ehepaar den Vorruhestand genießen, endlich viel reisen. Nun sei alles anders: Der Ehemann müsse neue Aufgaben übernehmen, sich um den Haushalt kümmern. Dazu kämen die irritierenden Wesensveränderungen beim erkrankten Partner. Dessen Unruhen, das In-sich-Zurückziehen, das Anderssein und die mangelnde Hygiene. "Das beunruhigt nicht nur, sondern belastet wahnsinnig, auch psychisch", sagt Wesel. Bei einer Demenzerkrankung gerieten die Angehörigen - gerade wegen der emotionalen Bindung - rasch in eine Überforderung.

Viele Betroffene fragten sich, wie sie mit der Erkrankung umgehen können, schildert Edith Wesel. Welche Hilfen es gebe und wie diese finanziert werden könnten, seien andere häufig gestellte Fragen. Die Allermeisten kämen allerdings erst zu einem sehr späten Zeitpunkt in die Beratung, dann, wenn die Verzweiflung schon sehr groß sei. "Aus denen bricht es dann richtig heraus, viele fangen auch an zu weinen. Für sie ist die ganze Situation sehr schlimm, sie sehen keinen Ausweg." Nicht nur, dass der gesamte Lebensentwurf verloren ging: Die pflegenden Angehörigen nehmen sich keine Freiräume mehr, geben ihre Hobbys auf. Viele schämten sich auch und isolierten sich. "Das alles kann depressiv machen", sagt Wesel. Immer wieder höre sie die Frage, wie es weitergehen könne, wie man es aushalten könne.

Das Hilfsnetz im Landkreis aber sei eng gespannt, Angebote gebe es viele. Neben dem ambulanten Pflegedienst und der Tagespflege bietet beispielsweise die hauswirtschaftliche Versorgung eine Entlastung. Daneben gibt es Betreuungsgruppen in Freising und Moosburg für Demenzerkrankte oder Ehrenamtliche, die für einige Stunden in der Woche eine Betreuung anbieten oder eine Schulung für pflegende Angehörige. Sie rate zu einem Baukastensystem, sagt Marianne Lieb. "Langsam anfangen, etwas einmal in der Woche ausprobieren und dann staffeln." Manche der Angehörigen fühlten sich aber auch in einem so hohem Maße verpflichtet, dass es ihnen sehr schwer falle, loszulassen und Hilfe anzunehmen, schildert sie. Auch wenn sie selbst wüssten, dass sie die Pflege eigentlich nicht mehr alleine schaffen. "Der Kopf weiß es, aber der Bauch macht es anders." Oftmals sei es schon hilfreich, wenn zumindest für ein paar Stunden in der Woche eine Auszeit genommen werde. "Möglichkeiten gibt es viele", sagt Edith Wesel. Auch Finanzierungsmöglichkeiten. Seit der Einführung des neuen Pflegestärkungsgesetzes im Januar gebe es zum Glück für Pflegeleistungen auch mehr Geld. Angesichts der prognostizierten steigenden Zahl an Demenzerkrankten - Wissenschaftler gehen von einer Verdoppelung der Zahl der Betroffenen aus - müsse die Gesellschaft aber wohl allmählich lernen, eine Akzeptanz für diese Krankheit zu entwickeln, sagt Wesel.

Das nächste Seminar für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz beginnt am Donnerstag, 22. Oktober. Ansprechpartner sind Edith Wesel (Caritas-Zentrum Freising, Telefon: 08161/ 5387924) und Marianne Lieb (Awo-Seniorenpark Moosburg, Telefon: 08761/668874).

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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