Forensischer Psychiater:Gibt es böse Menschen?

Forensischer Psychiater: "Ich bemühe mich, professionell zu arbeiten und möchte am nächsten Tag immer in den Spiegel schauen können", sagt Norbert Nedopil.

"Ich bemühe mich, professionell zu arbeiten und möchte am nächsten Tag immer in den Spiegel schauen können", sagt Norbert Nedopil.

(Foto: Robert Fischer)

Norbert Nedopil über gefühlte Bedrohung, die Seele von Mördern und die Frage, wann Narzissmus krankhaft wird

Interview von Lars Langenau

Norbert Nedopil leitete bis September mehr als 20 Jahre lang die Abteilung für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig- Maximilians-Universität München. Er beurteilte, ob ein Straftäter psychisch krank oder schuldfähig war. In seinem Berufsleben begutachtete er Tausende Probanden, darunter einige spektakuläre Fälle: Den Maskenmann, der drei Jungen aus einem Schullandheim entführte und ermordete, einen Lkw-Fahrer, der sechs Prostituierte strangulierte, außerdem Gustl Mollath und Beate Zschäpe. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch veröffentlicht, das jetzt bei Goldmann erschienen ist: "Jeder Mensch hat seinen Abgrund. Spurensuche in der Seele von Verbrechern."

SZ: Herr Nedopil, manche Medien vermitteln den Eindruck, es werde in Deutschland immer schlimmer mit Mord und Totschlag. Stimmt dieser Eindruck?

Norbert Nedopil: Nein, ganz sicher nicht, das nimmt seit vielen Jahren beständig ab. Wir sind nur nicht mehr an den Umgang mit Gewalt gewöhnt. So gab es in Deutschland 2014 624 vollendete Tötungsdelikte, das entspricht einer Häufigkeitszahl von 0,78 pro 100 000 Einwohner. Und 30 Prozent davon werden vom Partner begangen. Die Angst vor dem Verbrechen hat sich allerdings nicht entsprechend reduziert, sondern ist gestiegen. Die gefühlte Bedrohung wird greller beleuchtet als die Realität.

Nimmt auch die Zahl der Sexualstraftaten ab?

Die Zahl der sexuell motivierten Tötungsdelikte hat von 1981 bis 2012 von etwa 90 auf 17 im Jahr abgenommen.

Und sexuell motivierte Kindstötungen ...

... ist von 1981 bis 1998 von acht auf drei gesunken. Allerdings ist die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Kindesmissbrauch im gleichen Zeitraum von etwa 50 auf 950 pro Jahr gestiegen. Kinder werden übrigens nicht besonders häufig Opfer von Gewalt, und wenn, dann sind es Taten in Familien. Die Zahl der Kindstötungen durch Fremde liegt in Deutschland seit Jahren bei 30 bis 40 Fällen jährlich. So schlimm die Einzeltaten sind und kein Trost für die Angehörigen: Die Welt ist besser, als Sie glauben.

Wie viele Menschen sind im psychiatrischen Maßregelvollzug untergebracht?

Auch hier sind die Zahlen in den vergangenen Jahren rückläufig. Im Vergleich zu Gefängnissen, in denen in Deutschland etwa 63 000 Menschen untergebracht sind, leben hier nur etwa 6600 Personen wegen psychischer Störungen.

Sie saßen in Ihrer Karriere Tausenden von Straftätern gegenüber. Wie redet man mit Mördern?

Nicht anders, als ich gerade mit Ihnen rede. Man sieht es dem Menschen ja nicht an. Aber kenne seine Tat. Deshalb gehe ich mit ihm zunächst einmal so um, wie mit jemanden, der einen Unfall verursacht hat ... als ob es ein Unglück ist, welches mir nicht fremd ist.

Aber auch ein Unfall hinterlässt Opfer. Ist es schwerer, mit Opfern zu reden?

Wenn Sie eine Frau vor sich haben, die vergewaltigt wurde, oder einen Täter, der vor einem Jahr vergewaltigt hat, dann ist das Gespräch mit der Frau viel schwieriger.

Warum?

Einem Täter steht man neutraler gegenüber, weil man nicht so mitempfindet und nie das Gefühl hat, zu Sympathiebekundungen verpflichtet zu sein.

Gibt es böse Menschen?

Eigentlich sind gut und böse moralische Kategorien, die in meinem Gebiet nicht relevant sind, aber mir sind in meinem Berufsleben einige wenige Menschen begegnet, die ich als böse bezeichnen würde. Das sind Menschen, die wussten, was sie anrichten, die einem anderen willentlich schadeten oder wehtaten oder die ihre Bedürfnisse bewusst auf Kosten anderer auslebten.

Wie bringen Sie Mörder zum Sprechen?

Ich versuche, dem anderen das Gefühl zu geben, dass ich ihn verstehe. Das gelingt umso besser, wenn man zu seinen eigenen Schwächen stehen kann. Weil man selbst Verzweiflung kennt und man selbst Fehler macht, wenn auch nicht tödliche. Außerdem gestehe ich ein, dass ich - zumindest in der Fantasie - öfter viel weitergegangen bin als in der Realität. Ich glaube, da stehe ich nicht allein.

Wie reflektiert können Mörder über ihre Tat reden?

Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt einige sehr reflektierte Menschen, die ihre Schuld nicht ertragen und daran zerbrechen. Gerade war jemand hier, der alle Schuld von sich gewiesen hat, sich selbst nur als Opfer schwieriger Umstände sah. Er schob alles auf die schrecklichen Dinge, die er erlebt hatte und sagte, dass er ja im Strom habe mitschwimmen müssen. Dann sei es zur Auseinandersetzung gekommen, und plötzlich sei da das Messer gewesen.

Können Sie so ein Selbstmitleid durchbrechen?

Ich lasse die Menschen relativ lange erzählen, dann hake ich nach. Erst am Schluss konfrontiere ich die Leute mit der Frage, ob das denn tatsächlich alles ohne ihr Zutun abgelaufen ist. Ich sage ihnen beispielsweise, dass sie leicht kränkbar sind oder es nicht ertragen, wenn sie eine Frau zurückweist. Manche bleiben in ihrer Schleife, andere nutzen die Chance, sich ihrer eigenen Verantwortung zu stellen.

Wie reagieren diese Menschen, wenn Sie ihnen die Wahrheit offen ins Gesicht sagen?

Ich versuche ihnen so viel von meiner psychiatrischen Einschätzung zu sagen, wie sie vertragen können. Aber es kann passieren, dass sie dann wütend werden, den Raum verlassen, mich abwerten und sich die Situation wiederholt. Ich muss die Warnzeichen schon beachten, damit alles friedlich verläuft. In vielen dieser Menschen brodelt es, und es braucht oft nur noch den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Bereuen diese Menschen ihre Tat?

Reue ist für mich schwer zu fassen, sie hält bei kaum jemand über lange Zeiträume an. Viele bereuen später oft nicht die Tat, sondern die Folgen für sich selbst.

Eine kleine Meldung aus der Tagespresse: Eine Frau tötet ihre drei Kinder. Diese Tat macht sprachlos. Sie saßen dieser Mutter gegenüber. Wie hält man das aus?

Diese Frau war nicht wirklich krank, aber in einer verzweifelten Situation. Der Vater von zweien ihrer Kinder wollte sich von ihr trennen. Eigentlich wollte sie sich mit ihren Kindern von einem Dach stürzen, aber auf dem Weg dahin sah sie ein Polizeiauto, geriet in Panik und erwürgte die Kinder auf der Autobahn. Kurz zuvor hatte sie den Vater darüber informiert, dass sie es mit den Kindern allein nicht schaffe. Sie stellte ihn vor die Wahl, entweder zurückzukehren oder zu sagen, dass es aus ist und er die Kinder nie wiedersieht. Damit meinte sie, sie seien dann alle tot.

Und dann?

Sie versuchte, ihre Kinder zu erwürgen. Das älteste Kind wehrte sich, starb jedoch. Sie schrieb ihrem Ex-Partner eine SMS mit dem Wortlaut: "Unser Schatz ist jetzt bei den Engeln." Dann erstickte sie einen der kleineren Zwillinge mit einer Windel und schrieb eine weitere Textnachricht: "Unser Schatz XY ist jetzt auch bei den Engeln." Und dann: "XY ist jetzt auch bei den Engeln." Inzwischen hatte der Mann die Polizei gerufen. Sie baute dann einen Autounfall, im Anschluss wurden die drei toten Kinder im Wagen gefunden.

Sie waren für das psychiatrische Gutachten dieser Frau zuständig.

Bei ihr herrschte eine Hoffnungslosigkeit, die das Leben unerträglich machte. Das kann man verstehen. Zudem hatte sie eine extreme Wut auf den Typen, der sie im Stich lassen wollte. Sie wollte ihr Leben und das ihrer Familie auslöschen. Bei Männern ist der Grund für einen erweiterten Suizid viel häufiger die Kränkung, verlassen worden zu sein. Sie denken, dass die Frau ihre Kinder ebenso verlieren soll, wie er die Beziehung und die Familie verloren hat. Ihr narzisstisches Motto lautet: "Dann zeige ich ihr, wie es ist, wenn sie ganz ohne uns lebt."

Wann wird Narzissmus pathologisch?

Ein psychisch gesunder Mensch kann damit umgehen, dass das Leben nicht nur aus Belohnungen besteht und er auch mal eine Durststrecke meistern muss. Jeder Mensch, der etwas erreicht, verfügt über narzisstische Züge. Auch ich, sonst wäre ich nicht Professor geworden. Man muss schon von sich überzeugt sein und davon, dass man mehr kann als die anderen. Krankhaft wird es, wenn dieser Persönlichkeitszug alle anderen Eigenschaften überdeckt. Wenn Sie einem pathologischen Narzissten Fragen stellen, auf die er keine Antworten weiß, dann sind Sie in dessen Augen der Blöde, weil Sie ja so blöde Fragen stellen. Der "normale" Mensch kann sein Unwissen zugeben oder darum bitten, die Frage verständlicher zu stellen. Narzissten hingegen sehen sich als fehlerfrei.

Nach dem Ende einer Beziehung bin ich auch verletzt, zuweilen wütend. Inwiefern ist das normal?

Das dürfen Sie alles sein. Der pathologische Narzisst aber würde sagen: "Die weiß ja gar nicht, wie toll ich bin, deshalb stalke ich sie, damit sie es merkt." Oder aber ich bin so gekränkt, dass ich unbändige Wut habe und ihr zeige, dass sie so etwas mit mir nicht machen kann - und schlage zu.

Und was wäre natürliches Verhalten?

Man ist gekränkt, sauer und natürlich traurig. Nach einer gewissen Zeit fragt man sich, was denn in der Beziehung schiefgelaufen ist. Irgendwann wird man in der Regel feststellen, dass das nicht mehr zu kitten ist und vernünftigerweise sagen: Was mache ich das nächste Mal geschickter? Das wird sich der Narzisst nicht fragen, da er sich als perfekt empfindet.

Wann werden Menschen gefährlich?

Wenn mehrere Risikofaktoren zusammentreffen und eine fatale Kombination bilden. Wenn es nur einen Risikofaktor gibt, dann passiert in der Regel nichts. Wenn zwei Risikofaktoren wie Narzissmus und Depressionen zusammenkommen, wird es gefährlich. Gesellt sich noch Alkoholkonsum dazu, der Verlust der Freundin oder ein Schicksalsschlag, wird es dramatisch.

Wie kann man Amokläufe und Gewalttaten verhindern?

Es kommt darauf an, ob sich der Proband behandeln lässt und kooperativ ist. Und ob er bereit ist, darüber zu reden. Dann kann man helfen.

Wenn Sie falsch liegen, kann das fatale Folgen haben. Fürchten Sie sich davor?

Ich bemühe mich, professionell zu arbeiten und möchte am nächsten Tag immer in den Spiegel schauen können. Aber vor Irrtümern ist niemand gefeit. Auch kann niemand langfristige Prognosen seriös stellen. Eigentlich müsste man Menschen, die einmal zum Mörder wurden und wieder in Freiheit leben können, jedes halbe Jahr sehen, um wirklich ihre Situation einschätzen zu können.

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