Flüchtlinge in Europa:Albtraum Abschiebung

Er muss Unvorstellbares durchgemacht haben auf seiner zweijährigen Flucht von Somalia bis nach München. Jetzt fürchtet der 19-jährige Abdulkarim die Abschiebung nach Italien, wo ihm laut Hilfsorganisationen Obdachlosigkeit, Prostitution und Gewalt drohen. Schuld ist "Dublin II", ein umstrittenes europäisches Abkommen. Auch andere Flüchtlinge berichten von menschenunwürdigen Zuständen in Italien.

Bernd Kastner

Abdulkarim war erst 15 Jahre alt, als er geflohen ist, ohne Eltern. Aus seiner Heimat Somalia über Kenia, Uganda, Südsudan, Libyen, Italien und Schweden bis nach Deutschland. Er muss unvorstellbare Grausamkeiten erlebt haben, zu Hause noch und auf der Flucht, die zwei Jahre dauerte. Und nun fürchtet er wieder um seine Sicherheit, mitten in München. "Dublin II" nennt sich die Bedrohung. "Dublin II" ist ein europäisches Abkommen, und wenn es danach geht, muss er wieder zurück nach Italien, weil er dort zuerst den Boden der EU betreten hat.

EU-Innenminister reden über Flüchtlingswelle

Auf Flüchtlingsbooten wie diesem überqueren jedes Frühjahr Tausende das Mittelmeer gen Norden. Auch wer es nach Italien schafft, erlebt dort laut Hilfsorganisationen menschenunwürdige Zustände, darf aber nicht weiterreisen.

(Foto: dpa)

19 Jahre ist Abdulkarim inzwischen und schwer traumatisiert. Er heißt in Wirklichkeit anders, und er möchte auch nicht selbst mit der SZ sprechen. Aber seinen Betreuern bei Refugio, dem Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer, hat er viel erzählt. Wie in seiner Heimat sein Vater als Zivilist in einem Gefecht erschossen wurde, wie später sein Bruder von Milizen ermordet wurde. Wie er von Milizen verschleppt und bedroht wurde, sodass er sich zur Flucht entschloss. Wie er in Libyen ein Jahr lang gefangen gehalten und erpresst wurde. Wie er auf der Überfahrt nach Italien Menschen sterben sah und er dann in Italien in einem Flüchtlingsheim lebte, das er als Gefängnis wahrnahm. Schlägereien, Gewalt, das Leben sei wie "unter Tieren" gewesen: "Es war für mich wie die Hölle", berichtete er bei Refugio in München.

Dass er italienischen Boden betrat, war kein Glück für ihn. Aber fast alle Fluchtwege von Afrika führen nach Italien und dort oft in die Obdachlosigkeit. "Das kann für Jugendliche hochdramatisch sein", sagt Anni Kammerlander, die Chefin von Refugio. "Sie führen ein desolates Leben." Überfälle, sexuelle Gewalt, Prostitution seien an der Tagesordnung. "Die Flüchtlinge sind nicht in Sicherheit in Italien." Ginge es nach "Dublin II", dürfte so gut wie kein Flüchtling in Deutschland bleiben, nur jene, die per Flugzeug kommen.

Die meisten aber, die aus Afrika, aus Asien oder Nahost fliehen, betreten fast zwangläufig zunächst den Boden sogenannter sicherer Drittstaaten, Italien ist nur einer von ihnen. Deutschland ist umgeben von diesen "sicheren" Staaten, sie dienen als Bollwerk für die Bundesrepublik. Das Dublin-II-Abkommen geht davon aus, dass in allen europäischen Staaten gleiche Asylstandards herrschen. Das mag vielleicht in der Theorie stimmen, nicht aber in der Praxis.

2009 ist Abdulkarim von Italien aus weiter zu seiner Cousine nach Schweden. Dort, endlich, fühlte er sich in Sicherheit, kam zur Ruhe, fand eine zweite Familie. Vielleicht hat er dort zum ersten Mal von "Dublin II" gehört, jedenfalls wurde er im Namen dieses Abkommens zurück nach Italien geschickt.

Für Abdulkarim brach eine Welt zusammen. "Er fühlte sich hoffnungslos und innerlich ganz leer, stand wieder vor dem Nichts", berichtet Birke Siebenbürger, seine Betreuerin bei Refugio. Er landete auf der Straße, irgendwann kam er in der leer stehenden somalischen Botschaft an, wo er zwischen Müllhaufen einen Platz zum Schlafen fand.

Einen Monat später, im April 2010, machte sich Abdulkarim wieder auf den Weg, diesmal nach Deutschland. Er kam zu Refugio. Obwohl er hier Therapie erhält und Fachleute sich um ihn kümmern, quälen ihn die Erinnerungen. Er wusste, dass das Dublin-II-Abkommen wieder über ihm schwebt, und dass das Verwaltungsgericht irgendwann gemäß Dublin entscheiden wird.

Italien ist auch für die Familie von Rima Y. zum Angstland geworden. Die 30-jährige Frau ist aus Syrien geflohen, ihre vier Kinder hat sie mitgenommen, das älteste ist acht. Auch sie schafften es bis nach Deutschland, aber weil auch sie zuvor in Italien waren, mussten wie wieder zurück. Nicht wegen Dublin in diesem Fall, sondern weil sie in Italien bereits Asyl beantragt hatten und man ihnen den Flüchtlingsstatus zuerkannte. Was positiv klingt, entpuppte sich für Y. und ihre Kinder als Albtraum.

Menschenunwürdige Zustände

So zumindest haben sie es in München den Leuten vom Flüchtlingsbus von Amnesty International geschildert, so findet es sich in den Akten ihres Anwalts Franz Bethäuser. Am 10. April dieses Jahres wurden sie nach Italien abgeschoben, aber dort hielten sie es nur sechs Tage lang aus. Eine Familienunterkunft habe Rima Y. nach vier Tagen verlassen müssen. Kirchengemeinden habe sie daraufhin um Hilfe gebeten, doch keine erhalten.

Ein syrischer Bekannter habe sie dann vom Bahnhof in Mailand zu seiner Unterkunft mitgenommen. Mitten in der Nacht kamen sie zu ausrangierten Zugwaggons, in denen Flüchtlinge, Betrunkene und Drogenabhängige gehaust hätten. Dreckig sei es gewesen, gestunken habe es. So einen schrecklichen Ort habe sie noch nie gesehen, gab die Mutter der vier Kinder zu Protokoll.

Es müssen albtraumhafte Stunden und Tage gewesen sein für die Familie. Eine Tochter sei bei der Odyssee verloren gegangen, zwei Stunden habe die Mutter nach ihr gesucht. Weil sie nicht mehr weiter wusste, kaufte sie von ihrem wenigen Geld ein Ticket nach München.

Nachprüfen lassen sich diese Schilderungen nicht, aber viele Fachleute halten sie für glaubwürdig. Pro Asyl schildert in einem Bericht von 2010 die "menschenunwürdigen" Zustände für Flüchtlinge in Italien. Seither hat sich offenbar wenig geändert.

Frau Y. und ihre Kinder wurden wieder zurückgeschickt nach Italien, das Münchner Verwaltungsgericht hatte es angeordnet: "Italien ist sicherer Drittstaat und erfüllt damit nach diesen normativen Einschätzungen die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention." Am Ende hat der Richter vermerkt: "Dieser Beschluss ist unanfechtbar." Wo sich Karim Y. und ihre Kinder derzeit aufhalten, ist ihrem Anwalt nicht bekannt, der Kontakt ist abgerissen.

Abdulkarim dagegen wird weiter von Refugio betreut. "Er leidet unter Schlafstörungen, kommt nicht zur Ruhe, seine Gedanken drehen sich im Kreis", berichtet seine Betreuerin Siebenbürger. Die Angst vor der neuerlichen Abschiebung quält den jungen Mann. "Traumatisierte Menschen sollten nirgendwo hin abgeschoben werden", fordert Anni Kammerlander. Anfang Mai aber hat Italien Abdulkarims Abschiebung zugestimmt. Helfen könne ihm nur, wenn ihn das Münchner Kreisverwaltungsreferat für reiseunfähig erklärt. Abdulkarim wartet weiter.

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