Flintsbach:Der vierte Neuanfang für Familie Sarvar

Flintsbach: Gulam Sarvar und seine Familie sind glücklich im neuen Zuhause.

Gulam Sarvar und seine Familie sind glücklich im neuen Zuhause.

(Foto: Nina Bovensiepen)

Nach Stationen in München, Fürstenfeldbruck und Edling hat die afghanische Familie nun in Flintsbach bei Rosenheim ein Zuhause gefunden. Doch eine Zukunft in Deutschland bleibt ungewiss.

Reportage von Nina Bovensiepen und Katharina Blum

München, Außenstelle Siemensallee des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Liegenschaft 3, Gebäude 55: Die Entscheiderin hat Bonbons auf den Tisch gelegt, und daneben Taschentücher. Gulam Sarvar überlegt. Wo soll er jetzt bloß anfangen? Monatelang hat er sich auf diesen Tag vorbereitet, aus seinem roten Rucksack kramt er jede Urkunde, jeden Beleg hervor, der für ihn und seine Familie spricht.

Er weiß: Jetzt gilt es, jetzt muss er alles sagen. Was nicht im Protokoll steht, ist nicht passiert. Und dabei ist doch so viel passiert. Der Dolmetscher nickt ihm aufmunternd zu. Dann erzählt Gulam Sarvar von Afghanistan, vom Krieg und den Taliban, von der toten Mutter und dem toten Vater, von der toten Schwester und dem toten Bruder.

255 Minuten lang fragt sich die Entscheiderin an diesem Dienstag vor einigen Wochen durch seine Fluchtgeschichte, jedes Detail könnte wichtig sein. Dann ist Gulam Sarvars Frau Fazila Asif an der Reihe, noch einmal eineinhalb Stunden Anhörung. Noch mehr Fragen. Und eine Frage bleibt am Ende: Reicht das Erzählte für eine Zukunft in Deutschland? Oder müssen sie zurück, zurück nach Afghanistan, das alles andere als ein sicheres Herkunftsland ist, zu dem es trotzdem immer wieder erklärt wird. "Das war ein sehr anstrengender Tag für uns", sagt Gulam Sarvar.

Lange haben sie auf diesen Tag gewartet, fast eineinhalb Jahre, viel länger als üblich, weil ihre erste Einladung nicht zugestellt wurde, sie den Termin verpassten und das Asylverfahren deshalb schon eingestellt wurde. Die Familie klagte, bekam Recht. Jetzt aber geht plötzlich alles schnell: Der Antrag auf Asyl für die Eltern und die Zwillinge Maivand und Maihan wird ein paar Wochen später abgelehnt. Dafür wird ihnen aber der sogenannte subsidiäre Schutz gewährt.

Subsidiären Schutz bekommen Menschen, denen in ihrem Herkunftsland "ernsthafter Schaden" droht, wie es im Asylgesetz, Paragraf vier, heißt. Wer in seiner Heimat die Todesstrafe, Folter, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung fürchtet, oder kurz: Wer um sein Leben bangt, der muss nicht zurück. Der kann bleiben, zumindest für ein Jahr. Dann entscheidet das BAMF neu, ob die Aufenthaltsberechtigung verlängert wird.

Die Familie könnte gegen den Bescheid klagen, um mehr Schutz zu erhalten. Ihr Anwalt Roland Kuhnigk schätzt aber, "dass eine Klage zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgreich wäre". Die Rechtsprechung sei bei solchen "Aufstockungsklagen" sehr restriktiv. Das zeigen Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der in ähnlichen Fällen wie denen der Familie von Gulam Sarvar entsprechende Klagen abgewiesen hat.

Anders werde derzeit praktisch nur geurteilt, wenn es sich um Männer im wehrpflichtigen Alter handelt, von 18 bis 42, wenn diese sich durch ihre Flucht dem Militärdienst entzogen haben. Nur dann, so geht es aus Urteilen des Verwaltungsgerichtshofs hervor, bestehe die Gefahr, "wegen unterstellten illoyalen Verhaltens und regimefeindlicher Gesinnung der Folter und Inhaftierung bis zum ,Verschwindenlassen' ausgesetzt zu sein".

Im Fall der Familie von Sarvar setzt der Anwalt Kuhnigh darauf, dass der subsidiäre Schutz nach dem einen Jahr verlängert wird, um weitere zwei Jahre, und danach wieder.

Aber erst einmal haben sie ein Jahr gewonnen. Sie sind sehr erleichtert darüber, so erzählt es Gulam Sarvar an einem Tag im Oktober - und das ist der ganzen Familie anzumerken. Sie kommen mehr und mehr an in ihrem neuen Leben. Es hat sich auch noch viel anderes getan in den vergangenen Wochen. Vor allem eines: Sie haben eine eigene Wohnung - sie sind endlich raus aus den Sammelunterkünften und den Containern, in denen sie zuvor untergebracht waren.

Flintsbach am Inn ist ihr neues Zuhause - und bereits Neuanfang Nummer vier in Deutschland, nach München, Fürstenfeldbruck und Edling. Im September sind sie in den 3000-Einwohner-Ort zwischen Rosenheim und Kufstein an der Inntal-Autobahn gezogen. Wieder mussten sie vieles zurücklassen, weil es nicht vorgesehen ist, Hab und Gut zwischen Flüchtlingsunterkünften hin- und herzutransportieren. Die ersten Tage hat Fazila Asif fast nur geputzt in der neuen Wohnung, die WG mit den jungen Männern, die hier vorher gewohnt hat, war da nachlässiger.

Auch in Flintsbach gibt es die Nachbarn, die nicht mit Flüchtlingen leben wollen

Flintsbach: Immer wenn Besuch kommt, wird üppig aufgetischt.

Immer wenn Besuch kommt, wird üppig aufgetischt.

(Foto: Nina Bovensiepen)

Aber jetzt sind sie glücklich in dem neuen Zuhause. Sie haben eine komplett eingerichtete Küche vorgefunden - alles darin ist nicht modern, alles ist gebraucht, aber es ist alles da: Geschirr, Geräte, in dem Raum steht ein großer Esstisch, außerdem ein kleiner Kindertisch, an dem die Zwillinge sitzen können, wenn Besuch da ist. Von den Fenstern aus schaut man in die nahen Berge. In dem neuen großen Wohnzimmer der Zwei-Zimmer-Wohnung stehen so viele Sofas, dass sich jedes Familienmitglied auf eines legen könnte.

Maihan und Maivand wollen gerade aber nicht liegen, sondern lieber durch den Flur toben. Wer die beiden Dreieinhalbjährigen beobachtet, hat das Gefühl, dass auch sie sich wohlfühlen hier. Bislang konnten sich die Zwillinge weder in der afghanischen Sprache Dari, in der die Eltern miteinander reden, noch auf Deutsch gut verständlich machen. An diesem Nachmittag hört man sie immer wieder sprechen, auch wenn noch nicht alle Wortfetzen verständlich sind. Auch in Flintsbach besuchen Maihan und Maivand wieder den Kindergarten, anders als zuletzt in Edling aber in einer gemeinsamen Gruppe. Sie hätten so viel mitgemacht, sie bräuchten sich, weshalb man ihnen nicht auch noch eine Trennung zumuten möchte.

Flintsbach: Maihan und Maivand sind dreieinhalb Jahre alt.

Maihan und Maivand sind dreieinhalb Jahre alt.

(Foto: Nina Bovensiepen)

Was sich im neuen Zuhause nicht geändert hat: Immer wenn Besuch kommt, wird üppig aufgetischt, denn so ist es in der Heimat der Familie üblich. Die vielen Teller mit gebratenen Tomaten und Auberginen, mit Salat, mit Reis und Lamm, mit Brot und den afghanischen Elefantenohren - ein sehr kalorienreiches Gebäck als Nachspeise - teilen sich an diesem Tag die beiden Journalistinnen von der SZ mit einer Patin vom Helferkreis. "Es hat sofort zwischen uns gepasst, das ist eine richtig tolle Familie", sagt diese. Momentan ist sie fast täglich da, es gibt viel zu tun, mit dem neuen Status müssen wieder einmal sehr viele Formulare ausgefüllt werden.

Wie in vielen anderen Orten gibt es auch in Flintsbach einen Helferkreis. 40 Aktive und 60 weniger Aktive zählt er, die 93 geflüchteten Menschen Deutschunterricht geben, sie bei Amtsbesuchen begleiten, gemeinsame Kochabende und Begrüßungstreffen mit den Nachbarn organisieren. Viele Menschen aus Flintsbach seien sehr hilfsbereit, sagt die Patin, die dezentrale Unterbringung fördere die Integration. So kennen viele im Ort inzwischen Kahif, der frühmorgens die Zeitung austrägt, oder Askari, der sich bei der Feuerwehr engagiert.

Wie ebenfalls in vielen anderen Orten gibt es aber auch in Flintsbach die Nachbarn, die nicht wollen, dass Flüchtlinge hier leben. Ihren Namen will die Patin deshalb nicht in der Zeitung lesen. "Eigentlich sehr traurig, aber ich möchte meine Familie nicht in Gefahr bringen." Es habe bereits ausländerfeindliche Angriffe ihr und ihrer Familie gegenüber gegeben, weil sie hilft. Dazu komme der zuletzt hohe Prozentsatz an AfD-Wählern im Raum Rosenheim.

Aufhören zu helfen will sie trotzdem auf keinen Fall, auch wenn es oft hart ist. Da sind nicht nur die Anfeindungen, sondern auch die Abschiebungen, die sie in unschöner Regelmäßigkeit miterlebt. "Viele der Flüchtlinge fallen dann in ein tiefes Loch hinein, auch das muss man gemeinsam durchstehen." Diese trüben Gedanken schiebt sie aber an diesem Tag rasch beiseite, schließlich darf die Familie von Gulam Sarvar vorerst bleiben. Sogar in der neuen Wohnung. Derzeit duldet der Freistaat sogenannte Fehlbeleger, also Menschen, die Asylschutz oder subsidiären Schutz genießen und sich eigentlich eine eigene Wohnung suchen müssten.

Besonders imponiert der Helferin in Flintsbach, wie sehr Gulam Sarvar hinterher ist, dass auch seine Frau Deutsch lernt. Das sei eher die Ausnahme, sagt die Patin. Deshalb hat sie sich dafür eingesetzt, dass Fazila Asif die Integrationsklasse der Berufsschule besuchen darf, obwohl die 28-Jährige dafür zu alt ist, bei 25 Jahren ist normalerweise Schluss. Also erklärte die Patin der Direktorin: "Die lernt, die macht, da werden wir keine Enttäuschung erleben." Wenn Fazila Asif nach zwei Jahren die Prüfung besteht, erhält sie ein Sprachzertifikat. Danach würde sie gerne eine Ausbildung zur Krankenschwester machen.

Für die Entscheidung, ob die Familie dauerhaft in Deutschland bleiben darf, wird es wichtig sein, wie sehr sie integriert ist oder sich integrationswillig zeigt. Und das tut nicht nur Fazila Asif. Auch ihr Mann besucht weiterhin einen Deutschkurs, voraussichtlich noch ein Jahr lang. Anschließend würde er gerne als Dolmetscher arbeiten, schließlich spricht er neben den beiden afghanischen Amtssprachen fließend Russisch und Englisch. "Mein Deutsch muss noch ein bisschen besser werden", sagt er. Auf Deutsch, das schon recht gut ist. Aber nicht gut genug, findet Sarvar, der gewillt ist, alle Anstrengungen zu unternehmen, damit sie bleiben können.

Im Moment gibt es zumindest einiges, was ihnen Hoffnung macht. Dass sie den subsidiären Schutz erhalten haben. Dass sie in Flintsbach so gut aufgenommen wurden. Und dass sie hier so eine schöne Wohnung gefunden haben - zumindest für ein Jahr.

Heimatsuche

Maivand und Maihan sind Zwillinge. Ihr Name bedeutet in den beiden afghanischen Sprachen Paschtu und Dari jeweils das Gleiche: Heimat. Und diese Heimat ist der Grund, warum Gulam Sarvar im November 2015 beschloss, mit seiner Frau und den Kindern nach Deutschland zu flüchten. Afghanistan leidet seit Jahrzehnten unter Kriegen und Terror, unter dem Kampf mit den und gegen die Taliban. Sarvar hat dabei Eltern und Geschwister verloren. Nach einer langen Reise ist die Familie im Juni 2016 in München angekommen. Als erstes kam sie in der Bayernkaserne unter, seitdem begleitet die Süddeutsche Zeitung das Leben der Familie in einer Langzeitreportage. Im Abstand von einigen Wochen berichten wir auf der Leute-Seite des Lokalteils darüber, wie es für die Eltern und die Zwillinge weitergeht. Die ersten vier Folgen sind unter sz.de/sarvar zu finden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: