Festival im Gasteig:Musikalischer Marathon für Künstler und Neugierige

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Ein ganzes Wochenende bespielen die Münchner Philharmoniker und ihre Freunde den Gasteig - ein Experiment, das anstrengend ist, aber sich lohnt

Von Rita Argauer, Christina Prasuhn und Egbert Tholl

Das Festival, das Tausende Münchner Klassikfreunde in Bewegung und der Musik selbst neue Horizonte eröffnen soll, beginnt am Samstagmittag erst einmal sehr still: Paul Müller, Intendant der Münchner Philharmoniker, und Valery Gergiev, deren Chefdirigent, begrüßen das Publikum in der Philharmonie und fordern es zu einer Schweigeminute für die Toten von Paris auf. In Paris waren beide Orchester, die dieses Wochenende bestreiten, wiederholt zu Gast gewesen, und irgendwie ist es ein tröstliches Erlebnis, dass sie nun, unmittelbar nach dem Schweigen in Trauer, zusammen spielen, ein Trotz der Schönheit gegen die Barbarei des Fanatismus.

"360 Grad" ist das Marathon-Projekt überschrieben, das Müller, Gergiev und die Münchner Philharmoniker da starten: ein ganzes Wochenende lang Konzerte, Lesungen, Begegnungen und musikalische Experiment, am Sonntag mit dem Höhepunkt, alle Prokofjew-Klavierkonzerte aufzuführen. Das Festival war eine Idee und ein Wunsch Gergievs, der die Welt der Philharmoniker neuem Publikum eröffnen und zugleich einen kulturellen Dialog zwischen Russland und Deutschland etablieren möchte. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass zwei Kammerorchester aus Petersburg und München das Festival am Samstag eröffnen, das Mariinsky Stradivarius Ensemble und das MPhil-Kammerorchester. Schaltstelle dieser Kollaboration ist Lorenz Nasturica-Herschkowici, Konzertmeister bei den Münchnern und bei den Russen oft zu Gast; er leitet zunächst als erster Geiger das Konzert, dann lässt es sich Gergiev nicht nehmen, den zweiten Teil selbst zu dirigieren: Tschaikowskys Streicherserenade, erst als großen Seufzer, dann als wunderbare Schwelgerei in den süffigen Melodien.

Gergiev, der Musikverrückte, wird an diesem Samstag so viele der Konzerte wie möglich anhören, wird dazwischen immer wieder zu Proben mit dem großen Rest des Mariinsky-Orchesters verschwinden. Dieses kam ungefähr zu dem Zeitpunkt in München an, als er und Müller gerade das Publikum begrüßten, und für den Prokofjew-Marathon am Sonntag muss Gergiev nun noch proben, mit seinen Russen und den drei Pianisten, die im Petersburger Part des fünfteiligen Kompaktzyklus auftreten werden.

Doch erst einmal gibt es einen tollen deutsch-russischen Dialog. Nasturica-Herschkowici und sein Mariinsky-Amtskollege Stanislav Izmailov spielen die beiden Soloparts von Bachs Doppelkonzert, und man könnte lange darüber rätseln, ob man einen spezifischen Unterschied hört, hier vielleicht eine bisschen stärker ausgeprägte, tänzerische Leichtigkeit, dort mehr dunklen Gesang. Aber letztlich spielt das kaum eine Rolle, treiben die beiden doch gerade im zweiten Satz mit ihren Melodien wie leuchtende Blumen auf einem See, dem Orchester.

Doch nicht nur innerhalb der Klassik verbindet sich Musik an diesem Samstag in der Philharmonie. Neben dem groß angelegten Musikvermittlungsprogramm "Community Music", das nachmittags in der Black Box vorgestellt wird, gibt es auch eine Reihe sogenannter "Crossover"-Veranstaltungen. Etwa mit dem Pianisten Hauschka, der die klassische Musik eher in eine Indie-Ecke rückte und mit dem Musiker der Philharmoniker bereits im vergangenen Januar zusammen spielten. Beim Familienkonzert "Die Zauberflöte" unter der Leitung von Heinrich Klug werden nachmittags die Zuschauer mit einbezogen, dürfen mitsingen, die Namen der Figuren und die Instrumente erraten, die jeweils einem der Charaktere aus Mozarts erfolgreichster Oper zugewiesen sind. Drei jugendliche Gesangssolisten, begleitet von Musikern der Münchner Philharmoniker, singen nicht nur das Terzett der drei Knaben, sondern schlüpfen abwechselnd in sämtliche Rollen der Oper.

Anschließend befassen sich im "Russischen Salon" dann drei Schauspieler gar nicht mehr mit Musik, sondern mit Literatur. Und so leiht sich etwa Tatort-Kommissar Udo Wachtveitl die Lesebrille von einer Dame aus dem Publikum und liest mit einer solchen Begeisterung und Ausdauer aus Tolstois "Anna Karenina", dass zwischenzeitlich die Befürchtung entsteht, er werde den kompletten Roman vortragen; alle weiteren Veranstaltungen beginnen entsprechend mit deutlicher Verspätung.

Man kann kaum alles sehen und hören, zu viel findet gleichzeitig statt. Doch zu Jazz-Star Till Brönner versammeln sich dann spät am Abend noch einmal alle Übriggebliebenen in der gut gefüllten Philharmonie. Brönner bestreitet die erste Stunde alleine mit seinem Quintett, bis erneut das Streichorchester aus Musikern der Philharmoniker und des Mariinsky-Orchesters auf die Bühne kommt. Lorenz Nasturica-Herschcowici wirft sich hier nun swingend trotz Frack mit sichtlicher Freude in den Jazz Brönners. Brönner selbst betont zwar zu Beginn, dass sie nur ein einziges Mal am Tag zuvor zusammen geprobt hätte. So muss Brönners Quintett-Kollege, der schwedische Saxophonist und Flötist Magnus Lindgren, der das Orchester dirigiert bisweilen laut einzählen. Doch das sorgt nur für die charmante Improvisations-Atmosphäre einer Jam-Session.

Kurz davor holte Gergiev in seinem letzten Dirigat des Abends ganz Erstaunliches aus der Jugendakademie heraus. Der Carl-Orff-Saal ist gut gefüllt, obwohl das Programm mit einem Bläserquintett von Hindemith und Popows Kammersinfonie für ein Septett weniger bekannt ist. Doch in dieser "Deutsch-russischen Nacht" führt er den Dialog der beiden Nationen fort, mit dem der Tag begann, fort. Das Spiel der deutschen und russischen Musiker der Jugendakademie, deren Künstlerischer Leiter Gergiev seit deren Gründung 2013 ist, bekommt trotz der Zartheit der kleinen Besetzungen einen ungewöhnlichen Zug. Der Enthusiasmus der jungen Musiker wird von Gergiev präzise kanalisiert und verliert dennoch nicht an Esprit.

Immer wenn man die Säle wechselt, läuft man an Din-A-4-Ausdrucken vorbei: "Je suis Paris" steht darauf, die Künstler und das Orchester, die sich heute so viel verschiedener Kunst öffnen, zeigen ihre Solidarität und Anteilnahme. Der Schatten der Anschläge in Paris ist aber auch im Konzert Till Brönners spürbar. Der widmet die Instrumental-Version "Once upon Summertime" der französischen Hauptstadt, in der Hoffnung, dass diese wieder bald so werde, wie in dem Stück besungen.

Die Philharmoniker und Gergiev zeigen mit diesem Tag im Gasteig, das Klassik sich heute nicht mehr verriegeln will. Wessen sich die Klassik öffnet, ist vielfältig und bleibt letztlich eine Geschmacksfrage: Ob man den experimentellen Ansatz eines Hauschkas mag, das volksnahe Kabarett von Andreas Martin Hofmeir, Literatur und Film wie im deutsch-russischen Salon oder doch reine Klassik wie die der Jugendakademie. Und da gibt es sicher noch einige Türen mehr, die am Samstag noch nicht aufgegangen sind. Doch die Bewegung, besser, dass etwas in Bewegung kommt, ist wunderbar. Sei es das Publikum, das von Saal zu Saal rennt, oder die Musiker, die morgens unter Gergiev spielen und Abends unter Brönner jazzig swingen, nur um gute zwölf Stunden später schon wieder beim Prokofjew-Marathon auf dem Podium.

© SZ vom 16.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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