Fernsehexperiment:Wie würden Sie entscheiden?

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Bei der München-Premiere der TV-Verfilmung von Ferdinand von Schirachs "Terror" im Arri fällen die Zuschauer ihr eigenes Urteil. Davor diskutieren sie auf Einladung von Bayern 2 und SZ mit Beckstein und Nida-Rümelin

Von Thomas Jordan

Bevor die ARD am 17. Oktober ihr großes Fernsehexperiment "Terror - ihr Urteil" startet, bei dem Millionen von Zuschauern online oder per Telefon abstimmen und ihr Urteil über den Kampfpiloten Lars Koch sprechen können, hatten die Münchner dazu bereits Gelegenheit. Am Mittwochabend war es an den 360 Premierengästen im Schwabinger Arri-Kino, über den Soldaten und bis dahin mustergültigen Staatsbürger Lars Koch zu richten, der das Zeug zum tragischen Helden hat.

Kurz nach Filmbeginn wendet sich der Richter (Burghart Klaußner) in Lars Kraumes Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Erfolgsstück direkt an die Zuschauer unten im Kinosaal: Auf der Leinwand glänzen hinter ihm die ersten Sonnenstrahlen über der Kuppel des Reichstagsgebäudes, und die Kamera zoomt nah an Klaußner heran, als er sagt: "Ich werde das Urteil verkünden, das Sie finden werden." Klar wird damit auch, dass es vor dieser bedeutungsgeladenen Kulisse nicht nur um die Schuldfrage in einem Einzelfall geht. Es geht an diesem Abend und nächste Woche im Fernsehen nicht nur darum, darüber abzustimmen, ob ein Kampfpilot namens Lars Koch (Florian David Fitz) des 164-fachen Mordes für schuldig befunden wird. Der hat in dem fiktiven Fall ohne Befehl seiner Vorgesetzten ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abgeschossen, das auf die voll besetzte Münchner Allianz-Arena zu stürzen drohte. Denn schon 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es der Menschenwürde widerspricht, Leben gegen Leben aufzuwiegen und eine kleinere Zahl von Menschen zu opfern, um eine größere zu retten.

Es geht den Filmemachern und von Schirach in dem neuartigen, interaktiven Fernsehformat vielmehr darum, eine gesellschaftliche Diskussion in Deutschland über die Frage in Gang zu bringen, welches gegenwärtig die angemessenen Maßstäbe für richtiges Handeln sind. Reicht es noch aus, sich auf die Buchstaben des Gesetzes zu berufen, formaljuristisch korrekt zu argumentieren, oder wird diese verfassungspatriotische Position in der Krise einer terroristischen Bedrohung selbst zur unmenschlichen Prinzipienreiterei?

Vor die Abstimmung, die in München mit grünen und orangen Stimmkarten erfolgt, haben die Veranstalter Bayern 2-Radio und Süddeutsche Zeitung eine Podiumsdiskussion gesetzt. Mit dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein, dem Philosophen Julian Nida-Rümelin, der SZ-Terrorismusexpertin Annette Ramelsberger und dem Hauptdarsteller Florian David Fitz decken die Diskutanten dabei das Spektrum der gesellschaftlichen Fragen aus den Bereichen Politik, Ethik, Medien und Kunst ab, die der Stoff aufwirft. Für einen Moment bedrückten Schweigens im Saal sorgt dabei gleich zu Beginn Günther Beckstein, der aus seiner persönlichen Erfahrung als Politiker erklärt, dass das im Film dargestellte Zögern der politische Verantwortlichen realistisch getroffen sei. Sie verfolgen den Flug der gekaperten Maschine, ohne zu einer Entscheidung zu finden. "Ein Stück Feigheit der Verantwortlichen ist da", sagt Beckstein. "Sie überlassen, ja vielleicht hoffen sie auf den Mut so eines Kampfpiloten."

Vor falschen Schlussfolgerungen aus dem BVG-Urteil warnt Julian Nida-Rümelin, der das BVG-Verbot, Menschenleben gegeneinander aufzurechnen, 2006 öffentlich verteidigt hatte. In "dilemmatischen Situationen", wie derjenigen Kochs - in der man in jedem Fall zumindest moralisch schuldig werde, weil die 164 Passagiere des gekaperten Flugzeugs mit höchster Wahrscheinlichkeit in jedem Fall sterben werden - sei eine Abwägung von Menschenleben sehr wohl zulässig. "Freispruch" lautet daher auch sein persönliches Urteil.

Am Ende der Diskussion ist es unterdessen auch Günther Beckstein, der es schafft beim Publikum für einen befreienden Lacher zu sorgen. Schmunzelnd gibt er sein Urteilsempfehlung in reinstem Juristendeutsch ab: "Schuldspruch mit strafbefreiendem Notstand." Im Ergebnis votiert auch er damit für Straffreiheit.

60 zu 40 Prozent für einen Freispruch des angeklagten Soldaten steht es bisher bei den Vorabvorführungen von Kraumes Fernsehkammerspiel deutschlandweit. In München fällt das Ergebnis der Publikumsabstimmung noch deutlicher aus: Mehr als zwei Drittel des Publikums halten am Ende die SZ-grüne Seite ihres Abstimmungskärtchens in die Höhe und votieren damit für den Freispruch, die Übrigen stimmen mit Bayern-2-Orange dagegen.

Wie sehr die geschickte filmische Verflechtung von Realität und Fiktion das Münchner Publikum in seinen Bann zieht, wird bei der anschließenden Diskussion an den Stehtischen im Foyer des Arri-Kinos deutlich. Die Rentnerin Carola Becker hatte von Schirachs Stück schon einmal im Münchner Metropoltheater gesehen und den Angeklagten schuldig gesprochen. Daraufhin hatte sie so starke Gewissensbisse bekommen, dass sie unbedingt noch einmal die Gelegenheit zur Abstimmung haben wollte. "Diesmal", berichtet sie strahlend, "habe ich mit Freispruch votiert".

Gegen die Mehrheitsmeinung steht an diesem Abend die Sprecherin des Oberlandesgerichts München, Andrea Titz. Sie kann keine Begründung für einen übergesetzlichen Notstand erkennen, der den Freispruch des Angeklagten erlaubt hätte. Weil in ihren Augen aber nicht Mord, sondern Totschlag vorliegt, hält sie eine Verringerung des Strafmaßes auf fünf Jahre für angemessen.

Am meisten fällt an diesem Abend aber die Art und Weise auf, wie im Publikum über das Dilemma des Soldaten Koch diskutiert wird. Kaum jemand beharrt unnachgiebig auf seiner Position, fast alle zeigen sich gesprächsbereit und sind am Meinungsaustausch interessiert. In ihrem positiven Urteil über das interaktive Filmformat sind sich unterdessen alle einig. Die Apothekerin Susanne Bartels bringt es auf den Punkt: "Endlich ist der passive Zuschauer einmal aufgerufen, selbst Verantwortung zu übernehmen und nicht nur zu meckern." Ob das bei der TV-Ausstrahlung ebenso gelingt, wird sich erweisen.

© SZ vom 14.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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