Ferienprogramm:"Hier lernt man, was die Eltern durchmachen"

Ferienprogramm: Vor dem Arbeitsamt stehen die Kinder an, um einen Job zu bekommen.

Vor dem Arbeitsamt stehen die Kinder an, um einen Job zu bekommen.

(Foto: Catherina Hess)

In der Spielstadt Mini-München arbeiten Kinder als Müllfahrer oder Bürgermeister. Und fassen dabei Beschlüsse, von denen die Großen lernen könnten.

Von Wolfgang Görl

Am Vortag jobbte die elfjährige Josephine in der Security, doch heute hat sie etwas Besseres gefunden: Kellnerin im Gasthaus "Zur fetten Sau", ein begehrter Arbeitsplatz, für den sie lange Schlange stehen musste. Drinks servieren, das Essen an den Tisch bringen, die Zeche kassieren - Josephine, die in der roten Schürze die Aura gehobener Gastronomie ausstrahlt, erledigt ihren Job mit mädchenhafter Lässigkeit, genau wie ihre Freundin Paula, 10, die ebenfalls in der "Fetten Sau" angeheuert hat.

Die beiden verdienen fünf MiMüs pro Stunde, das ist die gängige Währung in Mini-München in der Zenith-Halle. Davon kassiert 20 Prozent das Finanzamt, wo übrigens der elfjährige Daniel arbeitet und das Jonglieren mit Zahlen "ganz lustig" findet, obwohl er lieber im Gewerbeamt die Akten gewälzt hätte.

Es ist der erste Dienstag der Sommerferien, schon um acht Uhr morgens standen etliche Kinder samt Eltern vor den noch verschlossenen Toren Mini-Münchens, in der Gewissheit, noch zwei Stunden warten zu müssen. Im Laufe des Tages wird die Bevölkerungszahl der Spielstadt auf mehr als 2000 wachsen, ein urbanes Räderwerk setzt sich in Gang, angetrieben von Handwerkstätten, Bauarbeitern, Laboranten und Dienstleistern, und verwaltet von akkuraten Behörden.

Mini-München, das große Ferienprogramm der Stadt, ist ein Mikrokosmos, der spielerisch die Welt der Erwachsenen simuliert. Wer dort eintritt, erhält eine Arbeitskarte, muss Geld verdienen, um etwas kaufen zu können, muss zum Arbeitsamt, wenn er den Job wechselt, hat Rechte und Pflichten, darf einen Stadtrat wählen und den Oberbürgermeister, kann Ideen entwickeln, um das Gemeinwesen zu verbessern, kann studieren und sich fortbilden.

"Es ist eine Schule des Lebens", sagt Dagmar Baginski vom Organisationsteam. Eine Schule, in der es praktisch zugeht, in der die Kinder nicht still sitzen müssen und zuhören. Ein Mädchen, erzählt Baginski, hat ihr einmal gesagt: "Hier lerne ich was, ohne dass ich es merke."

Ein Bösewicht hat 23 MiMüs geklaut

Die neunjährige Cäcilia hat soeben gelernt, dass selbst in einer Spielstadt kriminelle Elemente ihr Unwesen treiben. Zwei Stunden ist sie als Polizistin Streife gegangen, mit Polizeiweste und grüner Mütze.

Anfangs war das ein Routinejob, sie hat mit einer Art Schubkarre chauffierende Taxifahrer in puncto Führerschein kontrolliert, doch auf einmal wurde die junge Polizistin mit einer ruchlosen Tat konfrontiert: Jemand hat 23 MiMüs geklaut. Cäcilia hat unverzüglich die Fahndung eingeleitet, nur leider waren die Zeugenaussagen dürftig. "Wir wussten nicht, wie der Dieb aussieht", klagt sie. Aller Voraussicht nach bleibt die Straftat ungesühnt.

Wenn von Mini-München die Rede ist, kommt rasch das Wort "Pädagogik" ins Spiel. So zitiert auch die Webseite der Veranstalter einen Aufsatz des Oldenburger Professors für Ästhetische Erziehung, Gert Selle: "Als moderner pädagogischer Entwurf hat sich das Mini-München-Großprojekt im Diskurs glänzend bewährt."

Weiter schreibt er: "Täglich entsteht da als gewollte Antwort auf die Situation eine ,soziale Plastik', wie Beuys sie sich vorgestellt haben mag: das immer wieder selbstreproduktiv erneuerte Spielstadt-Geschehen als Prozess oder Struktur in der Zeit an diesem Ort als Geflecht sozialer Wahrnehmungen, Beziehungen und Produktionen."

Gewiss, das kann man so sagen, das ist zweifelsohne korrekt - und doch klingt es arg zweckorientiert, so als wäre Mini-München in erster Linie eine raffiniert eingerichtete erzieherische Anstalt, in der wildwüchsige Kinder zu grundsoliden Staatsbürgern geformt werden. Doch damit wäre nur der Effekt beschrieben, der Pädagogen und vielleicht auch Eltern zufriedenstellt.

Keine Frage, die Stadt der Kinder als Abbild der Stadt der Erwachsenen ist lehrreich; aber sie ist auch und vor allem ein Riesenspaß, ein Spiel, in dem der Ernst des Lebens nicht die Überhand gewinnt. Warum sonst werden bis zum 19. August etwa 30 000 Kinder und Jugendliche ihre Ferientage freiwillig in einer Welt verbringen, die, vollgestopft mit Bürokratie und Arbeit, vordergründig jener gleicht, vor der die Erwachsenen in den Urlaub fliehen?

Auch über die Ehe zu Dritt stimmen die Mini-Münchner ab

Auch die miesesten Arbeiten sind in der Spielstadt noch ein Vergnügen, zumindest in den ersten Minuten: Helena, Verena und Maria beispielsweise haben sich als Müllsortierer verdingt, was ja nicht unbedingt ein Traumjob ist.

Aber auch der macht Spaß, nur nicht in diesem Moment: Die drei Mädchen stehen vor einem Plastiksack voller Küchenabfälle, die vom angenagten Butterbrot bis zur fettverschmierten Plastikfolie reichen. Der Saustall ist Helena nach einer Weile doch zu viel: "Das machen wir nicht", sagt sie kategorisch. Es wird eine Beschwerde geben, das Küchenpersonal darf sich schon mal warm anziehen.

Josephine und Paula sind mittlerweile in die Polizeiuniform geschlüpft, wofür sie einige bürokratische Hürden überwinden mussten. Auch in Mini-München ist es unerlässlich, dem Arbeitgeber formell zu kündigen, es gibt einen Eintrag in die Arbeitskarte und einen Lohnzettel, den man bei der Bank einlösen kann, und dann ist Geduld gefragt.

Vor den Schaltern des Arbeitsamts stehen etwa 80 Jobsuchende, auch Josephine und Paula haben sich eingereiht, und weil die kleinen Sachbearbeiter jeden Fall akribisch behandeln, dauert es eine gefühlte Ewigkeit.

Womöglich sind es solche Erfahrungen, die Josephine, während sie zur Polizeiinspektion marschiert, sagen lassen: "Hier lernt man, was die Eltern durchmachen." Jedenfalls werden die beiden Mädchen, behutsam angeleitet von echten Polizisten, in den nächsten Stunden für Ordnung sorgen und, wenn es sein muss, Steuerhinterzieher, Diebe oder Eltern ohne Aufenthaltsgenehmigung zur Strecke bringen.

Wer bei einer Missetat erwischt wird, findet sich im Gerichtssaal wieder, wo die Richter Moritz, 13, Valentin, 13, sowie Jonas, 15, der mal Jura studieren möchte, in schwarzer Robe Recht sprechen. Soeben haben sie die Beweisaufnahme in einem Fall von Diebstahl und Körperverletzung beendet, jetzt beraten sie hinter verschlossenen Türen. Sind die Angeklagten schuldig? Ja, sind sie, da ist sich das Gericht einig, obwohl die Sachlage ein wenig unklar ist und die Zeugen als befangen eingeschätzt werden.

Vor Gericht wegen eines Kratzers am Ellbogen

Der Angeklagte, der eine Arbeitskarte gestohlen haben soll, kommt mit einer Verwarnung davon, schlimmer erwischt es den Kerl, der bei der anschließenden Rangelei seinem Kontrahenten einen Kratzer am Ellbogen zugefügt hat. Ihn verdonnern die Richter zu zehn MiMüs Schmerzensgeld und fünf MiMüs Bußgeld - eine empfindliche Strafe. Für 15 MiMüs hätte der Delinquent in der "Mini-Pfisterei" immerhin fünf Brezn kaufen können.

Zur Mittagszeit läuft das Getriebe, das die Kinder-City in Gang hält, auf Hochtouren. Im Bauhof verkleidet der elfjährige Jonas die aus Draht und Holzlatten kühn geformte Fassade der künftigen Kunstakademie mit Pappmaschee; im Trickfilmstudio formt Stella, 10, aus Knete ein großäugiges Monster, das in einem Fantasy-Film in Stop-Motion-Technik sein Unwesen treiben wird; im Forschungslabor demonstriert Helena, die es mit zwölf Jahren zur Professorin für Wasserkunde gebracht hat, wie man den Säuregehalt des Wasser bestimmt; und im Klimaschutzzentrum zeigen Experten, wie man umweltbewusst mit Ressourcen umgeht.

An der Spitze der Spielstadtverwaltung steht Oberbürgermeisterin Thamina. Die Fünfzehnjährige ist bereits ein alter Hase in der Kommunalpolitik, sie hat drei Amtszeiten hinter sich. Was sie zu tun hat? Jede Menge. Die Zuschussanträge der einzelnen Betriebe sind täglich zu bearbeiten, dazu diverse Bürgerwünsche oder Anregungen zu Gesetzesänderungen, ganz zu schweigen von den Pressekonferenzen, auf denen sie den Reportern der hiesigen Medien, der Mini-Münchner Stadtzeitung, des Fernsehsenders MüTiVi und RadioMicro, Rede und Antwort stehen muss.

"Weil München bunt ist"

Bei der heutigen Dienstbesprechung mit dem stellvertretenden Bürgermeister Omeed, 15, und Stadtrat Josef, 15, stand ein ganz brisantes Thema auf der Tagesordnung: die Ehe zu dritt. Dabei hat das Gremium einen Beschluss gefällt, der, würde ihn sich Amtskollege Dieter Reiter im Rathaus am Marienplatz zu eigen machen, weltweites Aufsehen erregen dürfte: In Mini-München ist die Dreier-Ehe künftig zulässig, und zwar in jeglicher Variante.

Drei Mädchen können ebenso vor den Traualtar im dortigen Standesamt treten wie zwei Jungs mit ihrer Freundin. Kurzum, alles ist erlaubt. "Weil München bunt ist", heißt es zur Begründung, und man die Sitten anderer Kulturen respektiere. Bei der Bürgerversammlung, zu der sich gut 100 Kinder im Sitzungssaal eingefunden haben, lässt Thamina über die "dreiköpfige Ehe" abstimmen. Fast alle sind dafür. Einen Haken hat die Sache allerdings. Die Dreier-Hochzeit, sagt die Oberbürgermeisterin, "kostet etwas mehr".

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