FASD:Was durch Alkohol in der Schwangerschaft passieren kann

FASD: Die Ärztin und Psychologin Mirjam Landgraf leitet die Tess-Ambulanz im Haunerschen Kinderspital.

Die Ärztin und Psychologin Mirjam Landgraf leitet die Tess-Ambulanz im Haunerschen Kinderspital.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Wissenschaftler schätzen, dass ein Prozent aller Kinder mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen geboren wird.
  • Eine Dosis, bei der Alkohol in der Schwangerschaft ungefährlich ist, lässt sich nicht festmachen.
  • In München gibt es eines von drei Zentren in Deutschland, die sich um Betroffene der Krankheit kümmern.

Von Inga Rahmsdorf

Als Ben seinen Hasen über das Balkongeländer hielt, hat seine Mutter es gerade noch rechtzeitig gesehen und konnte das Haustier retten. Der Achtjährige wollte einfach mal schauen, was passiert. Dass der Hase hinunterfallen und dabei sterben könnte, hat der Junge nicht erkannt.

Lisa wollte einen Kaugummi bezahlen, 80 Cent sollte er kosten. Die Zehnjährige hat dem Kassierer einen Fünf-Euro-Schein gegeben und gefragt, ob das ausreiche. Simon ist von der Schule verwiesen worden, weil er ständig wegen Kleinigkeiten Wutanfälle bekommt und sich nicht an die Regeln hält.

Ben, Lisa und Simon sind durchschnittlich intelligent, aber im Alltag ecken sie ständig an. Sie überschreiten Grenzen, können ihre Emotionen nicht steuern, Mengen nicht einordnen und die Konsequenzen ihres Handelns nicht abschätzen.

"FASD ist die häufigste angeborene Krankheit in Deutschland"

Ihre Eltern sind deswegen in die Sprechstunde von Mirjam Landgraf gekommen. Und die Münchner Kinder- und Jugendärztin und Psychologin hat diagnostiziert, dass Ben, Lisa und Simon an einer Fetalen Alkoholspektrumstörung, kurz FASD (für "fetal alcohol spectrum disorders"), leiden. Ihre Mütter haben während der Schwangerschaft Alkohol getrunken. "FASD ist die häufigste angeborene Krankheit in Deutschland", sagt Landgraf. Mit ihr werden mehr Kinder geboren als mit Hirnschädigungen durch Sauerstoffmangel oder mit Down-Syndrom.

Wissenschaftler schätzen, dass ein Prozent aller Kinder mit Fetalen Alkoholspektrumstörungen geboren wird und in Deutschland insgesamt etwa 800 000 Menschen darunter leiden. Genaue Zahlen sind schwierig, denn häufig wird die Krankheit nicht erkannt. Das Wissen über FASD sei immer noch viel zu wenig verbreitet und verinnerlicht, sagt Landgraf. Das wollen die Münchner Ärztin und ihre Kollegen ändern. Es geht ihnen darum, sowohl die Betroffenen zu unterstützen als auch das Bewusstsein und die Prävention zu stärken. Denn die Krankheit ließe sich vollständig vermeiden.

Ben ist adoptiert und Lisa lebt in einer Pflegefamilie. Wie oft und wie viel ihre leiblichen Mütter während der Schwangerschaft getrunken haben, wissen die Adoptiv- und Pflegeeltern nicht. Simons Mutter sagt, sie habe ab und zu ein Radler getrunken. Mal ein Bier oder ein Glas Sekt zum Anstoßen während der Schwangerschaft, das ist nicht nur weitläufig akzeptiert, es gibt sogar noch Ärzte, die Schwangeren raten, bei Stress ein Gläschen Wein zu trinken.

Es lässt sich keine Dosis als unbedenklich festmachen

Nicht jeder Alkoholkonsum führt dazu, dass das ungeborene Kind erkrankt. Doch das Problem ist, dass Wissenschaftler nicht nachweisen können, welche Mengen zu welchem Zeitpunkt dem Fötus Schaden zufügen. Und so lässt sich auch keine geringe Dosis als unbedenklich festmachen.

Einer Studie des Robert-Koch-Instituts zufolge trinkt mindestens jede vierte Frau während der Schwangerschaft Alkohol. Bei einer anderen Untersuchung gaben etwa 45 Prozent der Befragten an, nicht zu wissen, dass Alkoholkonsum während der Schwangerschaft bleibende Schäden verursachen kann. Wissenschaftler betonen, dass FASD in allen Schichten der Gesellschaft vorkomme. Es sei ein Mythos zu glauben, das betreffe nur Alkoholikerinnen oder Frauen mit geringem Bildungsgrad, sagt Landgraf. Zu ihr kommen auch Mütter, die Akademikerinnen sind.

Die Kinder- und Jugendärztin leitet in München die sogenannte Tess-Ambulanz (Toxinexposition in der Schwangerschaft) am Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Es ist eine spezielle Anlaufstelle für Kinder, die erkrankt sind, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol, Drogen oder Medikamente zu sich genommen haben.

Mit der Diagnose kann man die Kinder angemessen fördern

Bei Landgrafs Arbeit geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, die Familien zu unterstützen. Eine korrekte und frühe Diagnose sei wichtig, damit die Kinder angemessen gefördert werden können, so Landgraf. Und auch, damit die Erkrankten und ihre Familien besser verstehen können, was eigentlich mit ihnen los ist. Deswegen organisiert Landgraf auch am 15. Juni in München gemeinsam mit anderen Ärzten und Psychologen eine bayernweite Netzwerktagung. Ziel des Kongresses ist es, Fachpersonal aus dem Gesundheits- und Sozialsystem zusammenzubringen und das Wissen über die Krankheit zu verbreiten.

Landgraf und ihre Kollegen haben die Erfahrung gemacht, dass die Diagnose für die Eltern meist eine extreme Entlastung bedeutet. Denn häufig machen sie sich Vorwürfe, fragen sich, was sie in der Erziehung falsch gemacht haben, warum sie ihrem Kind etwas hundert Mal erklären und es sich trotzdem nicht daran hält, warum es einfache Dinge im Alltag nicht bewältigen kann. "Und viele der Kinder werden aufgrund der ständigen Überforderung, Frustration und Erfahrung des Scheiterns aggressiv oder verhaltensauffällig", sagt Landgraf.

Sie werden im Kindergarten, in der Schule und zu Hause für provokant, renitent oder bockig gehalten, dabei sei ihr Gehirn derart geschädigt, dass sie sich in bestimmten Situationen nicht anders verhalten könnten. "Durch die Diagnose weiß man dann, dass es etwas Biologisches ist." Und so kann eine Diagnose Eltern, Lehrer, Therapeuten, Psychologen und allen anderen Bezugspersonen helfen, sich auf die Besonderheiten und Bedürfnisse der Kinder einzustellen und auch zu wissen, was sie von den Kindern erwarten können.

Zu wenig Zentren für die Betreuung

Die Warteliste für die Sprechstunde in der Tess-Ambulanz bei Mirjam Landgraf ist lang. Viele Eltern reisen von weither an, um ihre Kinder in München untersuchen zu lassen. "Wir haben ein Versorgungsproblem", sagt die Ärztin. Es gebe bundesweit nur drei große FASD-Zentren. Neben München noch jeweils eines in Münster und in Berlin.

Die Ärztin hat gemeinsam mit Florian Heinen, dem Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums und der Abteilung für Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie, auch ein Handbuch herausgegeben, das helfen soll, die fetalen Alkoholschädigungen besser erkennen zu können. Es gibt einige Kriterien, auch körperliche Merkmale, die bei der Krankheit spezifisch sind. Etwa dass die Einkerbung, die zwischen der Nase und der Mitte der Oberlippe verläuft, abgeflacht oder komplett verstrichen ist.

Tagung in München

Zum ersten Mal findet die Netzwerktagung Bayern zu FASD (Fetale Alkoholspektrumstörung) statt - zu der Erkrankung, die durch Alkohol während der Schwangerschaft ausgelöst werden kann. Der Kongress in München soll helfen, das Wissen über die Krankheit zu verbreiten, ein Bewusstsein dafür zu schaffen und die Versorgung der Betroffenen zu verbessern. Die Veranstaltung am Mittwoch, 15. Juni, 10 bis 17 Uhr, richtet sich bayernweit an alle Kinder- und Jugendärzte, Gynäkologen, Psychologen, Psychiater, Mitarbeiter von Gesundheits- und Jugendämtern, Eltern und Interessierte. Organisiert wird sie vom Haunerschen Kinderspital der LMU, dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und den Sozialen Beratungs- und Betreuungsdiensten Bayern des Landesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen. Die Teilnahme ist kostenlos, man muss sich aber bis zum 31. März anmelden: www. ispz-hauner.de. inra

Wer durch FASD beeinträchtigt ist, der leidet meist auch sein ganzes Leben darunter. Doch für Erwachsene gibt es noch weniger Anlaufstellen als für Kinder. Auch das soll auf der Netzwerktagung in München thematisiert werden. Zu Landgraf in die Ambulanz kommen auch Jugendliche, die einen Schulabschluss gemacht und einen Ausbildungsplatz erhalten haben, dann aber immer wieder scheitern, die Lehre abbrechen und ihren Alltag nicht bewältigen können, weil sie FASD haben. Sich selbst zu strukturieren oder eigene Handlungen zu planen, gelingt ihnen häufig nicht. Sie brauchen klare Handlungsanweisungen und Planungen in kleinen und kurzen Schritten.

Landgraf und ihre Kollegen haben auch die Erfahrung gemacht, dass Erkrankte und ihre Eltern oft ganz gut zurechtkommen, sobald sie die Diagnose erhalten haben und wissen, an welche Anlaufstellen sie sich wenden können - und dort dann endlich Hilfe erhalten.

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