Evangelische Kirche:"Wir machen uns keine Illusionen, dass wir den Negativtrend aufhalten können"

Die Kircheneintrittsstelle der evangelischen Kirche gibt es seit zehn Jahren.

Ein schwarzes und weißes Schaf dienen als Halter für Broschüren.

(Foto: Catherina Hess)
  • Seit 2008 sind im Dekanatsbezirk München fast 50 000 Menschen aus der evangelischen Kirche ausgetreten.
  • Um dem Trend etwas entgegenzusetzen, gibt es seit zehn Jahren eine zentrale Eintrittsstelle in der Innenstadt.
  • Etwa jeder Dritte, der in die Kirche eintreten möchte, tut dies dort und nicht an einer Gemeinde.

Von Jakob Wetzel

Die beiden Pfarrer gehen auch dorthin, wo niemand mit ihnen rechnet. Zum Christopher Street Day etwa, oder auf den Corso Leopold, das Kulturfest auf der Schwabinger Leopoldstraße. Dann suchen sie ihren Platz zwischen all den Ständen von Vereinen, Künstlern und Parteien, zwischen Wurstbuden und Musikbühnen, und bauen ihren eigenen Pavillon auf, den dunkelroten mit dem Schriftzug "Kircheneintrittsstelle". Und dort stehen Sabine Bleise-Donderer und Sebastian Kühnen dann und verteilen weiße Luftballons, auf denen "Gerne evangelisch!" steht. Sie wollten ein Merkposten sein, sagt Kühnen. "Damit uns die Menschen sehen und sich denken: Da war doch noch was."

Seit zehn Jahren betreibt die evangelische Kirche eine zentrale Eintrittsstelle in München. An diesem Sonntag feiert sie Jubiläum. Sie soll ein niedrigschwelliges Angebot sein; die Kirche will mit ihr dem Mitgliederschwund etwas entgegensetzen. Die zwei Pfarrer bieten Glaubenskurse an, Bibelarbeit mit kreativem Tanz und Stadtführungen. Vor allem aber sind sie da: Wer eintreten will, muss seitdem nicht mehr zum Pfarrer einer Gemeinde gehen, sondern kann auch zur Zentrale an der Herzog-Wilhelm-Straße am Rand der Altstadt kommen.

"Wir machen uns keine Illusionen, dass wir den Negativtrend aufhalten können", sagt Sabine Bleise-Donderer. Doch immerhin 1800 Menschen sind in der Eintrittsstelle seit 2008 Kirchenmitglieder geworden, pro Jahr seien es zuletzt immer etwa 200 gewesen, heißt es. Im Dekanatsbezirk München gab es inklusive der Eintrittsstelle im gleichen Zeitraum 5745 Eintritte; fast jeder Dritte ging also nicht in eine Gemeinde, sondern zu Bleise-Donderer und Kühnen. Seit 2008 sind freilich auch 48 214 Menschen ausgetreten.

Bleise-Donderer und Kühnen arbeiten in einem freundlichen Raum, die Wände sind weiß, der Boden ist aus Holz, vor dem Schreibtisch steht eine Garnitur aus Rattan-Sesseln, und die gläserne Eingangstür steht immer offen, wenn einer der beiden da ist. Jeder sei willkommen, sagen sie. Für die Broschüren gibt es neuerdings zwei Pappaufsteller in Form von Schafen, eines ist weiß, das andere schwarz.

Drinnen kann es sehr schnell gehen: Wer will, kann ohne viel Gewese eintreten. Gerade konvertierenden Katholiken sei das oft wichtig, erzählt Bleise-Donderer. Viele seien am selben Tag aus der katholischen Kirche ausgetreten und wollten am liebsten keinen Tag ohne Kirchenzugehörigkeit sein. Sie müssen dann lediglich persönlich kommen und Taufbescheinigung und Austrittszeugnis mitbringen; eine Glaubensprüfung gibt es nicht. Die beiden Pfarrer erklären, was es mit Kirchensteuer und Kirchgeld auf sich hat, regeln die Gemeindezugehörigkeit und vermitteln einen Kontakt zur künftigen Pfarrerin oder zum künftigen Pfarrer; sie wollten ja keine Alternative zur Ortsgemeinde sein, sagt Kühnen, sondern nur eine Brücke. Manchmal wird auch gebetet und in der Bibel gelesen, je nach Wunsch. Am Ende gibt es eine Urkunde.

Bevor es so weit ist, nehmen die Eintrittswilligen aber erst einmal Platz auf einem der Rattan-Sessel. Und sie sprechen mit den Pfarrern über die Gründe für ihren Austritt und für ihren Wunsch nach Wiedereintritt, und auch über alles andere, was sie gerade umtreibt.

Die meisten sind Rückkehrer, viele auch Ex-Katholiken

Die Interessenten kommen oft mit ähnlichen Motiven. Häufig gibt es unmittelbar einen Anlass, etwa dass einer Taufpate wird oder heiratet und mehr möchte als die Trauung im Standesamt. Oder es sind eigene Kinder unterwegs. Dann denken die werdenden Eltern oft über ihr Leben nach, möchten den Nachwuchs christlich erziehen und konsequent sein oder erinnern sich auch an die eigene Kindheit und den Kindergottesdienst, der ihnen früher so viel bedeutet habe, und diese Erfahrung wollten sie auch den eigenen Kindern ermöglichen.

Meist aber mehr stecke mehr dahinter, sagt Bleise-Donderer. Für ihre Arbeit in der Kircheneintrittsstelle haben die Pfarrer das Wort "Wendepunktbegleitung" geprägt. Menschen suchen nach Orientierung, sie merken, dass sich ihre Einstellungen verändern, dass sie Verantwortung übernehmen wollen, und dass sie sich in der Kirche noch immer zu Hause fühlen. Die meisten Interessenten sind Rückkehrer, die früher schon einmal in der evangelischen Kirche waren, aber ausgetreten sind. Knapp jeder Dritte ist ein Katholik, der konvertiert. Und die meisten, die eintreten, seien in ihren Dreißigern, sagt Sebastian Kühnen.

Auch äußere Faktoren spielen eine Rolle. Als die katholische Kirche im Jahr 2010 vom Missbrauchsskandal erschüttert wurde, da verzeichnete die evangelische Eintrittsstelle auffallend viele Konversionen von Katholiken zu Protestanten. Als sich 2014 hingegen das Einzugsverfahren der Kirchensteuer änderte und viele irrtümlich dachten, die Steuer würde erhöht, da stieg nicht nur die Zahl der Austritte, sondern es sank auch die der Eintritte.

Zudem kämen oft Interessenten, die von der politischen Haltung der Kirche etwa in der Flüchtlingsdebatte beeindruckt seien oder das soziale Engagement der Kirche unterstützen wollten, auch ohne den Anschluss an eine Gemeinde zu suchen, sagt Kühnen. Die Kirche sei ja mehr als nur eine Organisation für Spiritualität.

Deshalb schmerze es auch, was sie bei ihren Einsätzen mit dem mobilen Informationsstand oft von Passanten zu hören bekämen, sagen die beiden Pfarrer. Nämlich: "Ich bin ausgetreten, aber ich erziehe meine Kinder ja trotzdem christlich." Manche würden mit ihrem Austritt geradezu kokettieren. Dabei sei die Kirche doch auch eine Solidargemeinschaft. Wer sie nicht brauche, der solle auch an die denken, die sie nötig haben, sagt Kühnen. "Wir sind angewiesen auf Menschen, die nicht nur schöne Worte machen, sondern auch bereit sind, ihren Beitrag zu leisten."

Ihr zehnjähriges Bestehen feiert die Kircheneintrittsstelle am Sonntag mit einem Stadtrundgang zu evangelischen Stätten in der Innenstadt, von der ökumenischen "Münchner Insel" unter dem Marienplatz bis zur Dekanatskirche St. Markus an der Gabelsbergerstraße. Dort feiert die Kirche von 18 Uhr an einen Festgottesdienst mit Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler. Dabei kommen auch ein Rückkehrer zu Wort, ein Täufling und ein konvertierter Ex-Katholik.

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