Initiativen für Europa:Diese neue Generation von Europäern ist weiter als die EU selbst

Initiativen für Europa: von links: Belle Heiss, Fabian Kors, Nicolas Stamou und Isabella Amann, Thomas Ciarán Zschocke

von links: Belle Heiss, Fabian Kors, Nicolas Stamou und Isabella Amann, Thomas Ciarán Zschocke

(Foto: Florian Peljak/Stephan Rumpf)

In München engagiert sich inzwischen ein halbes Dutzend Initiativen für ein stärkeres Europa. Die Bewegung wächst. Nun wollen die Gruppen sich besser vernetzen.

Von Pia Ratzesberger

Von München nach Brüssel sind es 782 Kilometer. Man fährt über die A3, sieben Stunden und 50 Minuten, über Nürnberg, Frankfurt, Köln, Löwen. Man wird merken, dass man die Grenze passiert hat. Die Fassaden verändern sich, die Sprache, noch etwa 100 Kilometer sind es dann. Der Weg in die Hauptstadt Europas ist nicht weit und doch ist er vielleicht zu weit, wenn so viele Menschen nicht mehr wissen, warum es Europa noch braucht.

Der Brexit und die AfD als größte Opposition im Bundestag, die populistische Regierung in Italien, im Wochentakt kommt ein neuer Grund hinzu, dessentwegen man sich Sorgen um Europa machen könnte. Und deshalb treffen sich an verschiedenen Orten in München immer mehr Menschen, die etwas verändern wollen. Zum Beispiel in einem kleinen Café in der Maxvorstadt, in dem eine neue Partei alle Länder Europas vertreten will. Im Eine-Welt-Haus, in dem eine Bewegung mehr Volksentscheide durchsetzen möchte. Oder in einem Biergarten, in dem einer von einem Jahrzehnte alten Verein sagt: "In 20 Jahren will ich mit meinem europäischen Pass reisen."

Man kennt in München vor allem Pulse of Europe, es gibt aber auch die jungen europäischen Föderalisten, die Europa-Union. Das Alliance Europa City Team, DiEM25, Volt. Sie sind oft noch eine kleine Gruppe, oft auch eine Elite, aber sie sind die Menschen, auf die es ankommen wird. Wie es mit der Europäischen Union weitergeht, wird entschieden, wenn die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammenkommen. Aber eben nicht nur dort.

Sondern auch in einem kleinen Straßencafé in der Maxvorstadt, in dem Belle Heiss in der Sonne gerade ihren Laptop aufklappt und sagt: "Wir sind die erste paneuropäische Partei und wir wollen ins Europaparlament." Am Tisch lehnt ein Fjällräven-Rucksack, die Bild nannte sie und ihre Mitstreiter vor Kurzem die "EU-Hipster". Heiss, 28, ist Mitglied bei Volt, einer Bewegung, die eine Französin, ein Italiener und ein Deutscher im vergangenen Jahr gegründet haben. Sie wollen die erste Partei sein, die in allen EU-Ländern vertreten ist und auf allen Ebenen Politik macht, auf europäischer, nationaler und kommunaler.

Belle Heiss versucht gerade, noch mehr Stühle zu organisieren, es sind mehr als zehn neue Leute gekommen, die hören wollen, was Volt macht. Keiner ist älter als 35, keiner war vorher politisch aktiv, und auch wenn die Partei noch winzig ist, schafft sie eines auf jeden Fall: Junge Leute, die sonst in einem Café wie diesem über den Ausflug an den See diskutieren, dazu zu bewegen, lieber über die EU zu sprechen.

"Wir kommen nicht zu den besten Lösungen, wenn nationale Politiker nach Brüssel fahren und versuchen, das Beste für ihr Land rauszuholen", sagt Heiss dann. Sie ist eine Zeit in Irland zur Schule gegangen, hat drei Sommer in Rumänien gearbeitet, gerade ihr Jurastudium beendet. Die Europäische Union war für sie wie für viele andere am Tisch eine Selbstverständlichkeit, bis sie vor zwei Jahren las, dass Großbritannien austreten wird. Sie ist dann Volt beigetreten, der deutsche Mitgründer ist ein Freund von ihr.

Es läuft in der Partei wie heute Abend: Erst kommen die Freunde dazu, dann Freunde von Freunden und so weiter. 5000 Mitglieder kamen so zusammen, in Deutschland 700 Unterstützer, in München sind sie erst um die 20. Heiss sagt: "Ich hätte vor einem Jahr nicht gedacht, dass ich einmal ein Interview geben würde, also warum sollten wir es nicht nach Brüssel schaffen?" Um ins Europaparlament einzuziehen, gründet Volt gerade nationale Parteien, bisher in Belgien, Bulgarien und Deutschland.

Man will sich weder links noch rechts verorten; auf dem Tisch liegt ein Flyer mit den Worten pan-european, progressive, political. Auf 181 Seiten Programm fordern Heiss und die anderen zum Beispiel mehr digitale Verwaltung, kostenloses Schulessen, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Manches bleibt vage, aber Volt ist genauso, wie die etablierten Parteien gerne wären, wenn sie in alten Kaufhäusern ein begehbares Wahlprogramm vorstellen (CDU) oder Schwarz-Weiß-Porträts ihres Parteichefs plakatieren (FDP): Volt ist jung. Einer am Tisch sagt: "Ich will nach Feierabend gar nichts anderes mehr machen."

Initiativen für Europa: An diesem Samstag gibt es in München einen "March for a new Europe" - im Café Luitpold bereitete man sich am Mittwoch vor.

An diesem Samstag gibt es in München einen "March for a new Europe" - im Café Luitpold bereitete man sich am Mittwoch vor.

(Foto: Stephan Rumpf)

In einem Biergarten ein paar Straßen weiter dagegen zeigt sich, was mit einer jungen Bewegung passiert, wenn sie älter wird. Protokolle, Vereinsarbeit. Während zum Treffen von Volt mehr als zehn Leute kommen, die mitmachen wollen, tritt im Atzinger nur ein Neuer an den Tisch. "Wenn ich heute Mitglied werde, kann ich gleich Ersatzdelegierter werden?", fragt er und Nicolas Stamou, 30, nickt. Stamou trägt ein graues Sakko mit grünem Einstecktuch, er sitzt im Münchner Vorstand der jungen europäischen Föderalisten.

Sie sind keine Partei, sondern ein Verein. Ihre Geschichte geht auf das Jahr 1949 zurück, als sich der Bund Europäischer Jugend gründete, der wollte ein vereintes Europa voranbringen und letztendlich wollen Nicolas Stamou und seine Kollegen fast 70 Jahre später nichts anderes. Einerseits ist viel geschehen; sie reden jetzt am Tisch zum Beispiel über einen europäischen Außenminister, eine gemeinsame Armee, andererseits zersägten die ersten Mitglieder damals Schlagbäume an den Grenzen - und heute wird dort wieder kontrolliert. Auf der Facebook-Seite der jungen europäischen Föderalisten steht deshalb: "Don't touch my Schengen".

Viele machen bei mehr als einer Bewegung mit

Bevor sie über die Schengener Abkommen, mit dem die Grenzkontrollen abgeschafft wurden, diskutieren können, müssen die sechs Mitglieder aber erst einmal über die neuen Ersatzdelegierten abstimmen. In einer Woche ist bayerische Landesversammlung in Augsburg - am gleichen Wochenende hält die AfD dort ihren Parteitag ab. Stöhnen am Tisch. Auch, weil sie noch mehr Delegierte brauchen, um ihre vollen Stimmenrechte nutzen zu können.

Auf dem Papier sind sie 120 Leute in München, von denen machen nur noch um die 20 mit, also wird der Neue am Tisch gleich verpflichtet. Fünf Hände gehen in die Luft, es unterschreiben der Wahlleiter, der Schriftführer, der Vorsitzende. "Jetzt ist Volt noch progressiv, aber in ein bis zwei Jahren wird der klassische Verwaltungskram sie auch erreichen", sagt Stamou und sieht dabei so aus, als freute er sich auf diesen Tag ein bisschen.

Er hat lange in Griechenland gelebt, arbeitet heute als Berater. Seine Vorstandskollegin Isabella Amann, 29, ist Projektmanagerin im IT-Bereich. Sie sagt: "Ich finde es besser, etwas zu machen als gleich zu sagen, ich kann nichts ausrichten." Die anderen am Tisch: ein Jurastudent, ein Berater aus der Stahlbranche, noch ein Berater, ein Doktorand der Geschichte. "Du findest in all den Bewegungen leider kaum jemanden, der einen Hauptschulabschluss oder eine Ausbildung gemacht hat", sagt Stamou. Und dass er damit vielleicht recht hat, merkt man daran, dass man im Münchner Europa immer wieder dieselben Leute trifft. Viele machen nicht nur bei einer Bewegung mit, sondern gleich bei zwei oder drei.

Thomas Ciarán Zschocke zum Beispiel verteilt an einem Abend Flyer für Volt, leitet aber gleichzeitig das Alliance Europa City Team. Die Sonne knallt, er klickt die dunklen Gläser auf seine Brille und sagt, mit dem Team wolle er die verschiedenen Bewegungen vernetzen. An diesem Samstag werden alle gemeinsam den "March for a new Europe" veranstalten - "und ich weiß nicht, ob Volt und Pulse of Europe vorher schon einmal zusammen an einem Tisch saßen".

Das ist das Verrückte. Da sind sehr viele Menschen, die sich für ein starkes, engeres Europa einsetzen. Aber sie tun es in verschiedenen Gruppen.

DiEM25, kurz für Democracy in Europe Movement 2025, grenzt sich vielleicht am stärksten von den anderen ab. Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hat DiEM vor zwei Jahren gegründet, und als er jüngst in der Ludwig-Maximilians-Universität sprach, saß im Publikum Fabian Kors, 24. Er ist Mitglied bei den Jusos, aber auch bei DiEM und trifft sich gerade mit zwei Kolleginnen auf der Terrasse des Eine-Welt-Hauses.

"Wir sind radikaler als Volt, aber nicht so radikal wie die Linke, die uns vorwirft, dass wir den Kapitalismus unterstützen." Kors ist Wirtschaftsinformatiker, die eine Kollegin am Tisch arbeitet als Erzieherin, die andere bei einer Zeitarbeitsfirma. Es gibt in München also doch noch Treffen für Europa, bei denen Akademiker nicht unter sich bleiben.

Kors und die anderen wollen Europa "demokratisieren", mit mehr direkten Abstimmungen, mehr öffentlichen Sitzungen. Aber die Europäische Union sei doch, bei aller Kritik, demokratisch? "Nicht genug." Auf lange Sicht wolle man auch den Kapitalismus abschaffen, sagt Kors. DiEM will zur Europawahl antreten, in manchen Ländern kooperiert man mit bestehenden Parteien, in anderen gründen sich Wahlflügel, wie in Deutschland. Die meisten der 9000 deutschen Mitglieder leben in Berlin, in München sind sie bisher zehn. Aber da seien ja noch die anderen Bewegungen. Kors sagt: "Wir schauen eher auf die Gemeinsamkeiten als auf die Unterschiede."

Am Samstag wird er sich mit den anderen um 11.45 Uhr am Siegestor treffen, auch wenn manches sie trennt. An dem Tag, an dem Großbritannien vor zwei Jahren beschloss, die EU zu verlassen, werden Fabian Kors, Thomas Ciarán Zschocke, Isabella Amann, Nicolas Stamou und Belle Heiss die blauen Fahnen erst recht in den Himmel halten.

Noch nie war so klar, welche Kraft die europäische Idee entwickelt hat: Da ist jetzt eine neue Generation, die sich als Europäerin und als Europäer versteht und sich dafür einsetzt. Und damit ist sie im Kopf vielleicht viel weiter als die EU selbst.

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