Essstörungen bei Kleinkindern:Wenn Kinder das Essen verweigern

Sie verschmähen den Brei, das Schinkenbrot interessiert sie nicht: Kleinkinder, die keine Nahrung zu sich nehmen wollen, werden immer dünner. Die Sozialpädagogin Heike Kreß berät deren verzweifelte Eltern. Manchmal hilft es, die Kleinen einfach zu überlisten.

Stephan Handel

Essstörungen bei Kleinkindern: Mit einer Videokamera zeichnet Heike Kreß auf, wie der kleine Lorenzo gefüttert wird.

Mit einer Videokamera zeichnet Heike Kreß auf, wie der kleine Lorenzo gefüttert wird. 

(Foto: Stephan Rumpf)

Ein riesiger Berg steht vor Lorenzo und seiner Mutter, in der Mitte zwei Seen, und dass der Berg milchig-weiß ist, süß duftet und in einem kleinen Plastiktellerchen daherkommt, dass die beiden Seen aus Obst-Mus bestehen, nach dem sich die meisten Kinder die Finger abschlecken würden, macht's nicht besser: Der Berg samt den Seen muss auf den Löffel, von dort in Lorenzos Mund und dann möglichst hinunter in seinen Magen. Das kann dauern.

Früher Abend in einer schicken Doppelhaushälfte in Trudering: An und Matteo, Lorenzos Eltern, machen sich bereit für ein tägliches Ritual. Lorenzo, drei Jahre alt und von Geburt an behindert, soll essen. Er will aber nicht. "Er hat am Essen einfach kein Interesse", sagt An. Das ist fatal: Denn gerade für Frühgeborene wie Lorenzo ist ausreichende Ernährung von großer Bedeutung - bleiben sie auf Dauer untergewichtig, dann besteht die Gefahr, dass ihr Gehirn sich nicht richtig entwickelt. Außerdem: Welche Mutter, welcher Vater wird nicht nervös, wenn das Kind immer dünner und dünner wird?

Deshalb sind An und Matteo vor einiger Zeit zu Heike Kreß gekommen. Sie ist Sozialpädagogin und Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Im Kinderzentrum in Großhadern - einer Einrichtung, die zu den Kliniken des Bezirks Oberbayern gehört - kümmert sie sich um Kinder mit Fütterstörungen, seit Kurzem auch, indem sie zu den Eltern nach Hause kommt. Und deshalb sitzt sie jetzt in der großzügigen Küche in Trudering und schaut An und Matteo beim Füttern von Lorenzo zu.

Die Videokamera, die Heike Kreß eingeschaltet hat, zeichnet eine Szene auf, die fast ein bisschen komisch wäre, wäre sie nicht über die Maßen ernst für die Eltern: An sitzt am Esstisch, Lorenzo im Hochstuhl, der Teller mit Brei steht zwischen ihnen. An hat zudem noch die Aufgabe, nebenbei ein Schinkenbrot zu essen in der Hoffnung, dass sich bei Lorenzo ein gewisser Nachahmungseffekt einstellt: Wenn die Mama isst, dann ess' ich auch. Weil bei dem Jungen außerdem eines von Heike Kreß' Standardrezepten nicht wirkt, nämlich: Konzentration auf das Essen, hat auch Vater Matteo eine wichtige Aufgabe. Er steht hinter seiner Frau an der Brotschneidemaschine.

An lädt den Löffel voll Brei. Lorenzo schaut in der Gegend rum. Dann nimmt sie einen Bissen vom Schinkenbrot, was den Sohn auch nicht besonders interessiert. Dann gibt sie ihrem Mann ein Zeichen, der drückt auf den Knopf, die Brotschneidemaschine beginnt zu surren. Lorenzo dreht den Kopf, um zu sehen, was da los ist, und diesen Moment der Unachtsamkeit nutzt An, um ihm den Brei zwischen die Lippen zu schmuggeln. Ein Löffel wäre schon mal geschafft.

Anhand der Videoaufzeichnungen zeigt Heike Kreß den Eltern, was sie gut gemacht haben und was sie besser machen könnten. Sie hat dabei eine doppelte Aufgabe: Zum einen die Beobachtung des tatsächlichen Geschehens - zum anderen aber auch die Überprüfung, ob das, was die Eltern ihr erzählt haben, der Realität standhält: "Vor allem Mütter sind da oft komplett wahrnehmungsverzerrt", sagt sie.

In der Mehrzahl der Fälle sind es Frühchen, die nicht essen wollen. Das kann vielfältige Gründe haben: Durch die Intubierung in den ersten Lebenswochen sind Mund und Rachen gereizt, sodass alles, was dort hinein soll, Schmerzen bereitet. Zudem haben sie durch die künstliche Ernährung, etwa per Magensonde, nicht gelernt, was es heißt, Hunger zu haben - und dass dieses unangenehme Gefühl aufhört, wenn etwas in den Mund kommt und geschluckt wird.

Sorge ums Überleben

Das ist die eine Seite. Die andere sind die Eltern - die Angst um diese Handvoll Mensch, die Sorgen um sein Überleben machen sich in der Klinik an einem fest: am Gewicht. Ein bestimmter Wert auf der Waage muss erreicht werden, erst dann darf das Kind nach Hause kommen, erst dann haben die Eltern das Gefühl, nun ein einigermaßen normales Baby bei sich zu haben. "Dadurch bekommt das Gewicht eine ungeheure Bedeutung für die Eltern", sagt Heike Kreß. "Auch noch später, wenn es eigentlich kein Problem mehr ist."

Und so leben viele dieser Eltern unter dem selbst auferlegten Stigma: Ich kann mein Kind nicht richtig ernähren - auch wenn Ärzte, Wiegetabellen und der bloße Anblick des Babys eine andere Sprache sprechen. Der Mutter dann das Video vorzuführen, ihr zu zeigen, wie gut sie das macht, und dass das Baby sehr wohl Nahrung zu sich nimmt, das hilft meistens mehr als die objektivsten Argumente, und kommen sie auch unanzweifelbar von der Waage.

Oft kann die Therapeutin mithilfe des Filmchens sogar die Behauptung widerlegen, ein Kind esse nicht: Einer Mutter zeigte sie, dass ihr angeblich fütterungsunwilliger dreijähriger Sohn sehr wohl aß - aber immer nur dann, wenn die Mutter gerade nicht hinschaute. "Der wollte sich einfach nicht füttern lassen, sondern selber essen", sagt Kreß. Als sie das der Frau erklärt und gezeigt hatte, musste sie sie beim nächsten Besuch nur noch darauf aufmerksam machen, dass trockener Reis mit Erbsen auf dem Teller für ein kleines Kind eine Herausforderung ist. Seitdem kocht sie Sachen, "die ein bisschen pappen" - und alles ist gut.

Davon ist Lorenzo in seinem Hochstuhl noch weit entfernt. Aber immerhin: Er nimmt zu, auch wenn er noch nicht im grünen Bereich ist. "11 510 Gramm", sagt An sofort auf die Frage nach seinem Gewicht. Bis der Teller Brei aufgegessen ist, dauert es mittlerweile jedenfalls nur noch eine halbe Stunde statt einer ganzen. Vater Matteo, er ist Italiener, schaut ein bisschen wehmütig, wenn er von der Hoffnung spricht, seinen Sohn einmal so richtig mit Appetit tafeln zu sehen.

Neulich sind sie mit dem Zug gefahren, und was andere Eltern zu ekligem Kreischen bringen würde, hat bei An und Matteo Begeisterung ausgelöst: Lorenzo, der es bislang überhaupt nicht leiden konnte, irgendetwas am oder im Mund zu haben, hat die Fensterscheibe abgeleckt. Es ist ein Riesenberg, aber Löffel für Löffel wird er kleiner.

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