Erziehungsratgeber:Mut zum Machtwort

Erziehungsratgeber: "Wenn man Kindern immer alles erlauben würde, würde man sie zur absoluten Lebensuntauglichkeit erziehen", sagt Mathias Voelchert.

"Wenn man Kindern immer alles erlauben würde, würde man sie zur absoluten Lebensuntauglichkeit erziehen", sagt Mathias Voelchert.

(Foto: Robert Haas)
  • Mathias Voelchert hat vor neun Jahren das Münchner Familylab gegründet. In der Familienwerkstatt berät er Eltern und Kinder.
  • Er arbeitet eng mit dem dänischen Familientherapeuten und Autor Jesper Juul zusammen.

Von Sabine Buchwald

Die Brote sind geschmiert, die Bergschuhe eingefettet. Also los. Nein, nicht los. Denn da fällt der Satz des Sohnes: "Ich geh aber nicht mit zum Wandern!" Doch. Nein. Doch. Nein. Tränen. Geschrei. Oder: Gespräch. Das jedenfalls schlägt der Familientherapeut Mathias Voelchert vor. Und, dass sich Eltern durchsetzen sollen: "Wenn man Kindern immer alles erlauben würde, würde man sie zur absoluten Lebensuntauglichkeit erziehen." Einer dieser typischen Voelchert-Sätze, die wie eine Bombe im Kopf explodieren. Voelchert hat ihn in einem Interview mit der Journalistin Andrea Kästle gesagt, genau zu dem Thema "Ich geh aber nicht mit zum Wandern!" So heißt auch das Buch (Kösel Verlag) der beiden, vor einigen Wochen erschienen, in dem sie Familienkonflikte, wie den oben skizzierten, aufgreifen. Kästle, zweifache Mutter, stellt Voelchert, zweifacher Vater, Fragen und lässt ihn reden. Das kann er. Aber auch zuhören.

Mathias Voelchert hat vor neun Jahren das Münchner Familylab gegründet. Deutscher Untertitel: Familienwerkstatt. Voelchert arbeitet eng mit dem dänischen Familientherapeuten und Autor Jesper Juul zusammen. Er betreut Buch- und DVD-Projekte von Juul und organisiert Fortbildungen. 80 Tage im Jahr ist Voelchert für Vorträge und Seminare unterwegs. Auch, wenn er selbst nicht in München ist, bleibt die Familienwerkstatt ein Ort, an dem sich Paare und Familien in Schwierigkeiten beraten lassen können.

Vernichtende Worte zum System Schule

Amalienstraße, die LMU vor Augen, Modeläden und Cafés nebendran. Altbau, zweiter Stock. Mathias Voelchert steht im Türrahmen mit einem breiten Willkommens-Lächeln. Viel Weiß im Inneren. Voelcherts Hemd leuchtet so sauber wie Türrahmen und Wände. Er trägt eine dunkelblaue Jeans und das volle graue Haar nach hinten frisiert. Er ist, wie man gemeinhin sagt, eine jugendliche Erscheinung. Seine 61 Lebensjahre sieht man ihm nicht an. Dass er einer ist, der auf sich achtet, erkennt man wohl.

Im Gang der weitläufigen Wohnung hängen Bilder. Familienfotos, eine Reproduktion eines Gerhard-Richter-Gemäldes, ein heftgroßes Porträt von Bob Dylan: "All I can do is be me, whoever this is." Das hat der Sänger 1965 zu einem Musikjournalisten gesagt. Da war Voelchert elf Jahre alt und Englisch noch eine richtig fremde Sprache für ihn. Damals war er noch fest verankert im System Schule, für das Voelchert inzwischen vernichtende Worte findet: "Schule ist ein sich selbsterhaltendes System mit einem hohen Maß an Selbstverachtung", sagt er. "Es ist nicht für die Kinder und Jugendlichen da, sondern nur zum Selbsterhalt."

Voelchert hegt keine sonderlich schlechten Erinnerungen an seine eigene Kindheit, jedenfalls erzählt er nicht davon. Dieses Urteil spricht er stellvertretend für alle Klienten, die bei ihm Rat suchen mit Kindern, die in der Schule unterzugehen drohen. Menschen, die in ihrer Angst um die Bildungschance ihrer Kinder wohl kaum Sätze formulieren könnten wie: "Die Schule tut so, als ob die Benotungskultur das richtige Leben wäre." Voelchert macht sich Sorgen, dass man im Bereich Bildung in Deutschland den Anschluss an die Welt verliert. Er verabscheut den alten Geist in den Schulhäusern, mit dem "in der Industrie niemand mehr etwas anfangen kann".

Erfahrung und Selbsterfahrung

Voelchert ist in Ravensburg aufgewachsen. Seine Eltern haben dort ein Textilgeschäft. Die Zeit nach dem Unterricht und dem gemeinsamen Mittagessen verbringt er weitgehend unabhängig von ihnen. Er sei viel im Wald mit seinen Freunden gewesen, erzählt er. Wird aber auch früh dazu angehalten, Verantwortung zu übernehmen. Damit seine Eltern Urlaub machen können und das Geschäft nicht schließen müssen, überlassen sie ihm von seinem 15. Geburtstag an in den Ferien die Schlüssel. Er macht an einem guten Samstag 5000 bis 6000 Mark Umsatz. "Total stolz" gibt er das Geld nach so einem Arbeitstag auf die Bank. "Heute würde sofort das Jugendamt kommen", meint Voelchert. Ihm aber bringt die Mitarbeit im Betrieb seiner Familie ein dickes Taschengeld. Als er den Führerschein macht, kann er sich einen gebrauchten Audi kaufen. Voelcherts Gefühl von Selbstbestimmung und sein Bedürfnis nach Freiheit mag in diesen frühen Jahren entstanden sein. Vielleicht auch die Lust, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Zunächst studiert Voelchert BWL und wird Verkaufsleiter bei einer italienischen Jeans-Firma. Er lernt früh seine erste Frau kennen. Sie ist die Mutter seiner beiden Kinder, gemeinsam bauen sie eine eigene Firma auf, produzieren als eine der ersten Shirts mit Bio-Baumwolle. Als ihre Tochter neun und der Sohn sieben Jahre alt sind, trennt sich Voelchert. Er hatte sich verloren im Funktionieren, sagt er rückblickend. Es war eine "Trennung in Liebe". Aus seiner Sicht jedenfalls. Sie geben sich die Maxime: "Wir tun nichts, was mir und dir, unseren Kindern und unseren neuen Partnern schadet." Als der schlimmste Schmerz vorbei ist, schreibt Voelchert ein Buch über die Zeit und bringt es im Eigenverlag heraus. 300 Seiten über Beziehungsarbeit, freien Willen, die Suche nach Glück und Lösungen. Er wollte sich von dem Ehemann und dem Vater in der Familie trennen, sagt Voelchert. Er wollte wohl im Dylanschen Sinne wieder er selbst sein, ohne zu wissen, wer genau er zu dieser Zeit war.

Ein Machtwort zur richtigen Zeit

Seine Frau findet für ihn eine Wohnung. Und doch schüttelt er das Vatersein nicht ab. Aber statt im Alltag zu vertrocknen, lässt er seine Gedanken über Erziehung und das Heranwachsen von Jugendlichen aufblühen. Sein Sohn zieht nach ein paar Jahren zu ihm. Voelchert intensiviert seine Suche nach Selbsterfahrung, belegt Kurse, lässt sich zum Coach ausbilden. "Arbeiten hat für mich immer mit Lesen und sich Weiterbilden zu tun", sagt Voelchert. Menschen interessieren ihn, vor allem deren Unterschiedlichkeit. Wer zu ihm kommt, findet keinen Therapeuten, aber jemanden, der Schwierigkeiten benennen kann, einen, der versteht. Ihm ist wichtig, dass seine Klienten zermürbende Selbstverständlichkeiten reflektieren. Beinahe alle Paare, die Hilfe suchend zu ihm kommen, haben schlecht für sich gesorgt, sagt Voelchert. Wie die Frau, die zu ihm sagt: "Ich bin bis zur Unkenntlichkeit verheiratet."

Voelchert bekennt, dass es ein paar Jahre dauerte, bis er seine Kinder verstanden hat. "Ich habe bei meinen Kindern oft keine Antwort gehabt", sagt er. Heute weiß er, dass Kinder ihre Integrität bewahren müssen. Wenn das Miteinander gelingen soll, dürfen sie nicht ihr Gesicht verlieren. Müll runter bringen, ja, aber vielleicht nicht sofort. Sie sollen "gleichwürdig" von Erwachsenen behandelt werden, ein Jesper-Juul-Begriff. Auch ihre Würde ist unantastbar.

Voelchert glaubt, dass viele Erwachsene die Individualität ihrer Kinder unterschätzten und dies der Hauptgrund von Schwierigkeiten sei. Und doch plädiert er für die Durchsetzungskraft des Erwachsenen, etwa wenn es lebensgefährlich wird.

Das Buch von Voelchert und Kästle ist voller Beispiele, wie sie in jeder Familie vorkommen. Etwa wenn Kinder nicht essen wollen, was gekocht wurde. "Geschmack ist etwas sehr Subjektives", sagt Voelchert. "Das sollte man respektieren." Aber "glücklich ist man trotzdem nicht", erwidert Kästle. Darauf Voelchert: "Für Ihr Glück ist Ihr Kind aber auch nicht verantwortlich."

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