Gewalt:Ein misshandeltes Kind - und kein Verantwortlicher

  • Ein kleiner Junge hat schwere Kopfverletzungen und Blutungen - dass er misshandelt wurde, steht außer Frage.
  • Doch es steht Aussage gegen Aussage: Die Eltern beschuldigen die Tagesmutter, die äußert sich nicht zu den Vorwürfen.
  • Ob der Fall jemals gelöst wird, ist unklar.

Von Thomas Schmidt

Simon hat überlebt. Er hat alles überstanden, die Blutungen in seinem Gehirn und entlang seines Rückenmarks, den Knochenbruch in seinem Kopf, den langen Klinikaufenthalt und die vielen Untersuchungen der Ärzte. Als ob all dies nie geschehen wäre, spielt er heute wieder fröhlich glucksend auf dem Wohnzimmerboden seiner Eltern. Es geht ihm gut. Das ist vielleicht die einzige Gewissheit in dieser Geschichte voller offener Fragen. Es ist aber auch die wichtigste.

Simons Eltern wollen den wahren Namen ihres Sohnes nicht in der Zeitung lesen. Damit er in der Kita nicht anders behandelt wird, sagen sie. Und damit sie selbst keine misstrauischen Blicke von Betreuern oder Kinderärzten ertragen müssen. Denn Simon wurde misshandelt, daran gibt es kaum Zweifel.

Die Schwabinger Kinderchirurgie geht von einer "nicht-akzidentiellen" Ursache für seine Verletzungen aus, also von Absicht. Jemand muss Simon mindestens einmal so heftig geschüttelt haben, dass der zum Tatzeitpunkt gerade mal acht Monate alte Bub Hirnblutungen erlitt. Außerdem diagnostizierten Ärzte eine Kalottenfraktur, einen Bruch des Schädeldachs. Simons Eltern beteuern, dass sie ihr eigenes Kind nicht verletzt haben. Sie sagen, sie wüssten, wer ihrem Sohn das angetan hat. Beweisen können sie es nicht.

Weil sie Anfang des Jahres zunächst keinen Kita-Platz für ihren Sohn finden, geben die berufstätigen Akademiker Simon in die Obhut einer städtisch geprüften Tagesmutter. Bereits wenige Tage später erbricht er sich mehrfach, das sonst so lebhafte Kind wirkt apathisch, krampft, verliert schließlich das Bewusstsein. "Er lag ohnmächtig in meinen Armen und ich dachte: Er stirbt", erinnert sich seine Mutter, die sofort den Notarzt ruft. "Dann habe ich ihm die Hand auf die Brust gelegt und gespürt: Das kleine Herzchen schlägt noch."

Im Krankenhaus stellen die Ärzte bald darauf fest, dass ein Schütteltrauma die Anfälle ausgelöst haben muss. Mitarbeiter informieren die Polizei und das Jugendamt, noch in der Klinik werden die Eltern befragt. Sie sind überzeugt: Simon muss verletzt worden sein, als er bei der Tagesmutter war. Belegen können sie den Vorwurf nicht, sie argumentieren nach dem Ausschlussverfahren: Wenn wir Simon nicht geschüttelt haben und er nirgendwo sonst war, kann es nur die Tagesmutter gewesen sein.

Die Polizei nimmt Ermittlungen auf, ein Strafverfahren wird eingeleitet, doch die Suche nach der Wahrheit ist verzwickt. Die Tagesmutter schaltet einen Anwalt ein und äußert sich nicht zu den Vorwürfen, auch nicht gegenüber der SZ. Es steht Aussage gegen Aussage.

Die Tagesmutter hat faktisch Berufsverbot

Ein ähnlicher Fall wird derzeit vor dem Münchner Landgericht verhandelt. Einer 54-jährigen Tagesmutter wird vorgeworfen, einen Säugling beinahe zu Tode geschüttelt zu haben. Bis heute muss das Kind über eine Sonde ernährt werden. Die Tagesmutter sagt, das Kind habe sich den Kopf gestoßen. Mehrere medizinische Gutachten sollen nun das Verletzungsbild einordnen. In der Regel gilt: Je gravierender die gesundheitlichen Schäden sind, desto exakter lässt sich der Tatzeitpunkt eingrenzen. Zwischen Trauma und dem Auftreten der Symptome vergeht meist wenig Zeit. Ein Gutachten soll auch zu Simons Fall erstellt werden, doch das zieht sich.

Seine Eltern fühlen sich nicht nur als Opfer, sondern auch vom Jugendamt gegängelt. Die Behörde ordnete zum Wohl des Kindes Hausbesuche an, dreimal zwei Stunden pro Woche, dazu unangekündigte Kontrollen und wöchentliche Termine beim Kinderarzt. In einem offenen Brief unter anderem an OB Dieter Reiter beklagen die Eltern "die massive und einschüchternde, von jeglichem menschlichen Einfühlungsvermögen weit entfernte Behandlung" durch die Behörde.

Nach einem der vielen Kontrollbesuche schreibt eine Betreuerin dem Jugendamt, die Eltern gehen "liebevoll", "zärtlich" und "fürsorglich" mit Simon um, ihr Zuhause sei "heimelig und sauber". Die Kontrollen werden daraufhin reduziert, aber fortgesetzt. Die Eltern fühlen sich doppelt bestraft.

Die Behörde hingegen verweist auf ihre Pflicht, als allererstes das Wohl des Kindes zu schützen. Weder die Aussagen noch das Verhalten sowohl der Eltern, als auch der Tagesmutter hätten Anhaltspunkte "auf das wirkliche Geschehen" ergeben. Man weiß, dass man nichts weiß. Dass die Eltern positiv bewertet wurden, ändere "grundlegend nichts an dem Schutzkonzept". Das Jugendamt müsse sich strikt an die Fakten halten, und davon gibt es auch ein gutes halbes Jahr nach dem Vorfall nur wenige. Bis irgendwann ein medizinisches Gutachten vorliege, werde man die Eltern weiterhin im Auge behalten müssen.

Doch nicht nur für sie hat der Vorfall Konsequenzen: Als offenbar wurde, dass Simon misshandelt wurde, entzog die Behörde der Tagesmutter die Pflegeerlaubnis. Für die Frau, die selbst Mutter ist, bedeutet das faktisch ein Berufsverbot, obwohl auch sie von der Polizei derzeit nur als Zeugin behandelt wird. Ob sie ihre Erlaubnis zurückerhält, hängt vom Ergebnis der Ermittlungen ab.

Sollten die keinen Schuldigen ausfindig machen, könnte sie erneut eine Erlaubnis bei der Stadt beantragen. Das Gutachten zu Simons Verletzungen könnte über ihr Schicksal entscheiden, so oder so. Simon selbst weiß nichts davon. Er wirkt selig auf dem Fußboden, umringt von Spielzeug. Sein Herzchen schlägt.

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