Holocaust-Überlebender Leslie Schwartz:"Ich hab' die Hölle überlebt"

Holocaust-Überlebender Leslie Schwartz: Georg Wiesmaier (links) und Leslie Schwartz am Bahnhof in Dorfen.

Georg Wiesmaier (links) und Leslie Schwartz am Bahnhof in Dorfen.

(Foto: Renate Schmidt)

Der Holocaust-Überlebende Leslie Schwartz saß in dem Zug, mit dem 1945 Gefangene aus dem Konzentrationslager Mühldorf abtransportiert wurden. Nun kehrte zum ersten Mal seit mehr als siebzig Jahren dorthin zurück.

Von Gianna Niewel, Dorfen

Vor 70 Jahren war der 85-Jährige schon einmal an diesem Ort, am Bahnhof in Dorfen. Ende April 1945 ist Leslie Schwartz mit dem Zug hier eingefahren. Die mehr als sechzig Wagen haben am 25. April Mettenheim verlassen, 3600 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mühldorf wurden mit unbekanntem Ziel abtransportiert - darunter der 14 Jahre alte Leslie. Der Todeszug hielt auch in Dorfen. Am vergangenen Dienstagabend kehrte Schwartz nun zum ersten Mal seit mehr als siebzig Jahren dorthin zurück. "Es ist für mich wichtig, hier gewesen zu sein - diesmal als freier Mann. Das ist ein Teil meines Heilungsprozesses", sagt Schwartz. Aus diesem Grund habe er schon mehr als zwanzig Mal die Gedenkstätte in Dachau besucht.

Jetzt steht Leslie Schwartz da, violettes Hemd, beigefarbenes Sakko, und hört zu. Er freue sich, ihn begrüßen zu können, sagt Georg Wiesmaier (GEW). Der hat die Gedenkveranstaltung zum Mühldorfer Todeszug am Dienstagabend mit organisiert. Die dritte Bürgermeisterin Doris Minet (ÜWG) spricht von einem Zeichen, das der Überlebende Schwartz mit seiner Anwesenheit setze: Die Verbrechen hätten nicht nur in den Städten stattgefunden, Täter, Mitläufer und Opfer habe es genauso im Lokalen gegeben. Der Historiker und ehemalige Geschichtslehrer Heinrich Mayer sagt, man müsse Fragen an diesen grausamen Teil der Geschichte stellen, um Antworten zu erhalten.

Holocaust-Überlebender Leslie Schwartz: SchmidtMehr als vierzig Männer und Frauen kamen zu der Gedenkveranstaltung, mehr als 120 sahen im Anschluss den Film über den Todeszug.

SchmidtMehr als vierzig Männer und Frauen kamen zu der Gedenkveranstaltung, mehr als 120 sahen im Anschluss den Film über den Todeszug.

(Foto: Renate Schmidt)

Im März 1944 marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein

Bereits am Vormittag war er in der Mittelschule, um den Schülern seine Geschichte zu erzählen. Die beginnt im Januar 1930 in Baktalórántháza, einer Kleinstadt in Ungarn, wo er als László geboren wird. Eine entscheidende Wendung nimmt sie im März 1944, als die Wehrmacht in Ungarn einmarschiert und etwa eine halbe Million Juden deportiert werden, darunter auch er und seine Familie, die Mutter, die Schwester, die Halbschwester. Sie kommen zunächst in das Ghetto Kisvarda, dann nach Auschwitz. Mutter und Schwestern werden vergast. Weil er sich älter machte, kommt er nach Dachau, später schleppt er in Karlsfeld und Mettenheim Zementsäcke und entlädt Züge. "Du bist doch noch ein Kind, was machst du hier?", habe ihn eine Frau von außen durch den Zaun gefragt. "Ich konnte es ihr nicht sagen." Immer donnerstags sei sie fortan zu ihm gekommen, um ihm Brot zuzustecken.

Nach der Gedenkveranstaltung am Dorfener Bahnhof geht es in die Stadt, zum Essen ist der 85-Jährige bisher nicht gekommen. Während er auf die Nudeln wartet, kramt er aus seiner Tasche einen Stapel Erinnerungen. Es sind Fotos in schwarz-weiß und in Farbe. Sie zeigen ihn in der Druckerei, für die er gearbeitet hat, nachdem er 1946 nach Amerika ausgereist ist. Sie zeigen ihn umringt von Jugendlichen, denen er von seiner Vergangenheit erzählt. Es ist ein Brief von Angela Merkel dabei, die ihm, dem "Brückenbauer", für seine Arbeit dankt. In den vergangenen vier Jahren habe er mehr als 150 Schulen weltweit besucht, sagt er. "So etwas darf nie wieder passieren, das ist mein Antrieb." Zuletzt sind es Zeitungsartikel, eine Seite Drei, eine ganze Seite in der New York Times. Eine Studentenzeitung aus Ohio betitelte ihn als "Holocaust Healer", das gefällt ihm besonders.

"Ich hab' die Hölle überlebt, jetzt schaffe ich es auch wieder auf die Beine"

Mehr als 120 Männer, Frauen und Jugendliche warten derweil im Jakobmayer-Saal, es wird ein Film des Bayerischen Rundfunks gezeigt. "Der Mühldorfer Todeszug", das sind 44 Minuten darüber, wie Schwartz die Fahrt von Mettenheim erinnert, den Halt in Dorfen am Bahnhof und allen voran den in Poing. Am 27. April 1945 stoppen die Wagen dort, es heißt, der Krieg sei vorbei. Die Häftlinge schleppen sich aus den Waggons, durstig, ausgemergelt, fast verhungert. Auch Leslie Schwartz ist dabei. Er schafft es bis zu einem Bauernhof, wo eine Frau ihm ein Glas Milch hinstellt und ein Brot mit Butter schmiert. Die Freude hierüber währt nicht lange. Ein Junge der Hitlerjugend hat ihn verfolgt, es herrscht Verwirrung, der Junge schießt ihm in den Nacken. "Ich bin gefallen und er schrie mich an, ich solle aufstehen. Ich habe gedacht: Ich hab' die Hölle überlebt, jetzt schaffe ich es auch wieder auf die Beine."

Also sei er aufgestanden und zurück in den Zug gewankt. Der rollt wenig später weiter bis Tutzing, am 29. April werden die Häftlinge endgültig befreit. Bereits vor dem Film hatten die Anwesenden Gelegenheit, Fragen an Leslie Schwartz zu stellen. Wer von seiner Familie überlebt habe, möchte eine Frau wissen. Die Antwort: "Niemand". Ein Mann fragt, ob Schwartz auch heute noch angefeindet werde. "Sicher", antwortet der. "Schweinejude" hätte man ihm in den Staaten und auch hier in Deutschland nachgerufen, "schafft den Drecksjuden weg". "Wenn man das immer wieder hört - irgendwann frisst es sich fest. Man fängt an, daran zu glauben", sagt er. Es habe lange gedauert, bis er sich davon habe lösen können und an Selbstwert gewann. "But I am alive."

Unter den Besuchern im Jakobmayer-Saal waren an diesem Abend auch einige Flüchtlinge, die seit vergangener Woche im umgebauten Bahnhof untergebracht sind.

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