Gelebte Inklusion:Den Rollator beiseite

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Freude an der Bewegung zur Musik: Tanzlehrerin Candida Kraus (6. von rechts), Studioleiter Artur Faiß (3. von rechts) und die zehn Kursteilnehmer. (Foto: Renate Schmidt)

Bewohner des Edeltraud-Huber-Hauses tanzen regelmäßig im Studio Faiß - und an diesem Donnerstag auf der Bühne beim Sinnflut-Festival. Die Lebenshilfe Erding hat das Inklusionsprojekt für Menschen mit geistiger Behinderung gestartet, im Herbst geht es in die zweite Runde

Von Sarah Weiß, Erding

Als im Tanzstudio Faiß die Musik einsetzt, klopfen sich zehn Tänzerinnen und Tänzer auf ihre Körper. Sie strecken und schütteln ihre Glieder, bewegen sich frei zur Musik. Einige sind noch etwas zurückhaltend in ihren Bewegungen, andere legen gleich ausgelassen einen Twist aufs Parkett. Erika, eine der Tänzerinnen, wird später sagen: "Mir gefällt die Musik. Da mach ich alles mit." Alles mitmachen, was Spaß macht, das klingt normal, wenn es ums Tanzen geht. Und doch ist es besonders: Erika, 44, lebt mit dem Down-Syndorm - und auch die neun anderen Tänzer mit einer geistigen Behinderung.

Manuela Schieder und Sabine Falkenberg von der Lebenshilfe Erding sitzen auf zwei Stühlen am Rand und betrachten zufrieden das Geschehen. Sie sind bereits zum achten Mal mit den Bewohnern des Edeltraud-Huber-Hauses in der Freisinger Straße zur Tanzstunde hierher gekommen, Menschen im Alter von 20 bis 60 Jahren. "Wir wollen ihnen alles möglich machen, was andere Menschen auch tun können", sagt Schieder. Und so gehört neben Kino, Kaffee trinken oder einem Kirchenbesuch seit einiger Zeit auch der Tanzkurs zum Freizeitangebot der Lebenshilfe. In der Bewohnerbesprechung stellte sie das Projekt vor, zehn Teilnehmer fanden sich zusammen.

Für Schieder, Falkenberg und die Tanzgruppe ist das achte Training allerdings ein besonderes: Es ist das letzte vor der Generalprobe. Denn an diesem Donnerstag tanzen sie auf dem Sinnflut-Festival um 19 Uhr im Tanzgarten. Bereits im letzten Jahr spielten einige Bewohner des Hauses auch im Theaterstück "Jedermann" der Volksspielgruppe Altenerding mit. Dabei erkannten die Betreuer einige verborgene Talente, und so entstand die Idee für das nächste Projekt. "Die blühen auf der Bühne richtig auf und gewinnen ganz neues Selbstvertrauen", sagt Falkenberg:"Die Leute kommen aus ihrem gewohnten Umfeld raus und hierher in die Tanzschule. Dafür haben wir uns ganz bewusst entschieden. Der Tanzlehrer würde ja auch sonst zu niemandem nach Hause kommen." So möchten sie das Ideal der Inklusion ganz aktiv leben - und einen selbstverständlichen Umgang mit behinderten Menschen in der Gesellschaft fördern. Im Herbst wird das Projekt in die zweite Runde gehen. Menschen mit und ohne Behinderung sind herzlich willkommen.

Tanzlehrerin Candida Kraus leitet ihre Kursteilnehmer jetzt an, eine Choreografie zu tanzen, um sie zu animieren. Doch das ist eigentlich gar nicht nötig. Sogar ein älterer Herr, der üblicherweise mit dem Rollator unterwegs ist, tanzt ausgelassen. Es wird gelacht und geblödelt. Auch wer am Anfang noch etwas schüchtern war, nimmt jetzt die Arme in die Luft und klatscht im Takt. "Das geht so nicht", sagt dann die Teilnehmerin Bianca: "Die Musik ist viel zu langsam. Wir sind doch schon Profis." Alle sind natürlich sehr konzentriert, es ist ja immerhin bald Generalprobe. Doch bei aller Aufregung soll stets die Freude am Tanzen überwiegen.

Wobei: Auch das mit dem Rhythmus würde mittlerweile richtig gut funktionieren, sagt Studioleiter Artur Faiß, der begeistert von der Idee war und die Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. "Hier soll jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten Tanzen können, wie auch immer dieser Rahmen gesteckt sein mag", sagt er. Dass nicht immer alles koordiniert aussieht, sei überhaupt gar nicht so besonders, sagt er: "Glauben Sie mir: Koordinationsschwierigkeiten haben die Teilnehmer der anderen Kurse auch oft genug." Dann wird Faiß gerufen: Es geht an die Polonaise. Alle stellen sich in einer Reihe paarweise gegenüber. Tanzlehrerin Kraus bildet mit ihrem Partner den Anfang der Reihe, und Faiß bekommt von seiner Nachbarin gezeigt, wo er sich hinstellen soll.

Am Ende sind alle zufrieden, besonders Erika, die alles mitgemacht hat: Sie verbeugt sich vor ihrem Tanzpartner.

© SZ vom 30.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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