Erding:Vier von zwei Millionen

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"Er ist ganz besonders für mich": Rita Frieß aus Erding hofft, dass die Flucht ihres Onkels und seiner Familie aus Syrien Erfolg hat. (Foto: Renate Schmidt)

Die Familie von Rita Frieß wird auf der Flucht aus Syrien in der Türkei festgehalten. Sie hofft auf eine Zusammenführung in Erding

Von Sebastian Fischer, Erding

Rita Frieß ist eine fröhliche Frau. Wenn sie spricht, sprudeln die Worte aus ihr heraus. Silberne Creolen wackeln an ihren Ohren, wenn sie lacht, und sie lacht viel. Doch wenn sie von ihrem Onkel spricht, hält sie inne und wendet sich ab. Dass sie "Entschuldigung" sagt, lässt sich nur erahnen. Sie weint. Denn sie kämpft gerade einen verzweifelten Kampf, ihren Onkel bald wiederzusehen.

Frieß, 45, geboren und aufgewachsen in Damaskus als Rita Batti, Erdingerin seit ihrem 18. Lebensjahr, vermisst ihren Onkel Albert. Dass sie nicht will, dass man seinen Nachnamen in der Zeitung lesen kann, hat einen Grund: Sie fürchtet um seine Sicherheit und die seiner Frau und ihren zwei Kindern. Albert, Faten, Sandra und Diana sind aus der syrischen Hauptstadt geflüchtet. Erding war ihr Ziel. Jetzt harren sie aus in einem Lager in der Türkei nahe der syrischen Grenze, bewacht von Militärkräften, sagt Frieß. Die Flüchtlinge dort müssten bleiben, oder einer Rückführung nach Syrien zustimmen, das prangert auch Amnesty International an. Denn dies wäre womöglich ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.

Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge sind in der Türkei registriert, sie wollen weiter, von den Küstenstädten Izmir und Bodrum nach Griechenland. Die Türkei ist gelobt worden für ihre vorbildlichen Flüchtlingslager zum einen. Doch die Türkei ächzt unter dem Druck, zum anderen. Von verschärften Grenzkontrollen ist zu lesen. Es war zunächst nur eine schreckliche Meldung von vielen in diesen Tagen, als am 15. September ein Boot mit syrischen Flüchtlingen sank, und mindestens 22 Menschen ums Leben kamen. Die Küstenwache rettete 249, darunter Frieß' Onkel und seine Familie.

Doch dann berichteten die Flüchtlinge Journalisten und Menschenrechtsaktivisten vom zögerlichem Eingreifen der Rettungskräfte, gar von Schüssen auf das Boot. Sie berichteten, dass sie gegen ihren Willen und ohne Information mit Bussen in ein Lager in Düziçi gebracht wurden, Provinz Osmaniye, 15 Stunden Fahrt. Dort seien ihnen Dokumente in türkischer Sprache vorgelegt worden, ohne Übersetzung. Sie sollen zurück dorthin, von wo sie geflüchtet sind. Es sind schwere Vorwürfe gegenüber den türkischen Behörden.

Vorwürfe, die das türkische Innenministerium auf Anfrage unbeantwortet lässt und die ein Sprecher des Premierministers gegenüber dem Guardian bereits zurückgewiesen hat. Vorwürfe, die ein syrischer Flüchtling der SZ am Telefon bestätigt, als er, ein Ingenieur aus Damaskus, am Mittwochabend in Düziçi sitzt. Grillen zirpen im Hintergrund und er erzählt: "Wir leben wie im Gefängnis. Wir haben zu essen, aber keine warme Kleidung, keine Informationen. Wir dürfen nur raus, wenn wir nach Syrien zurückgehen. Wir sagen den Beamten, wir wollen raus. Sie sagen nur: yok - nein."

Es sind Vorwürfe, die Rita Frieß nicht glauben wollte, als Alberts Frau Faten sie anrief und ihre Situation schilderte. Sie zeigt auf ihrem Smartphone Bilder von ihrem Onkel, ein liebevoll lächelnder Mann mit grauem Haarkranz. Auch seine Frau und die Töchter lächeln auf den Bildern, sie sitzen in einem Restaurant in Bodrum und schauen zuversichtlich in die Kamera. In einer Gruppe sind sie vor Wochen in Damaskus aufgebrochen, von Beirut nach Istanbul geflogen, von dort nach Bodrum, der Schleuser ist schon bezahlt, sagt Frieß. Dann zeigt sie Bilder, wie ihre Verwandten zwischen anderen Flüchtlingen sitzen, 150 sind es mindestens in Düziçi. Sie lächeln nicht mehr.

Fünf Jahre ist es her, dass Frieß selbst in Syrien war, "mein geliebtes Land", sagt sie. Frieß ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, die Familienverhältnisse waren nicht einfach, ihr Onkel Albert war eine Bezugsperson. "Er ist ganz besonders für mich", sagt Frieß. Als sie 13 Jahre alt war, so erzählt sie es, wurde der Onkel verhaftet. Er war politisch aktiv, wollte mehr Demokratie in Syrien, war gegen Machthaber Assad. Über die Zeit im Gefängnis, über Folter, habe er ihr nur ganz wenig erzählt. Nur, dass er Kartoffelsäcke als Kleidung tragen musste. Seine Frau, seine Jugendliebe, heiratete er nach seiner Freilassung.

Als sie das letze Mal in Syrien war, erzählt Frieß, "da war es auch schon schlimm", Unfreiheit, Korruption. Doch jetzt würde sie nicht mehr hinfliegen. Sie will ihr altes Bild von Syrien behalten.

Dabei ist die Lage in Damaskus vordergründig noch nicht so dramatisch, die Zerstörung durch den Bürgerkrieg, Assads Fassbomben und IS-Terror nicht so allgegenwärtig. Doch der Krieg schon. "Du stehst mitten in der Nacht auf, weil nur dann Wasser kommt, bei 45 Grad. Die Lebensqualität sinkt", sagt Frieß. Vor allem fehlt Perspektive: Ihr Onkel wisse, dass er die Strapazen der Flucht nicht für sich erdulde, er ist 55, seine Frau 48. "Er macht das für seine Töchter." Die Ältere, 19, hat in Syrien mit dem Studium begonnen. Es wird gerade hierzulande oft dieser Satz gesagt, um bei besorgten Bürgern für Empathie zu werben, auch Frieß sagt ihn, doch bei ihr klingt er Zuhörern in der Magengrube nach: "Die haben nicht einfach so ihre Heimat verlassen."

Frieß ist selbst bei der Erdinger Aktionsgruppe Asyl aktiv, neulich hat sie zwei Röhrenfernseher für eine Unterkunft besorgt, einfach so, nach Feierabend. Frieß arbeitet als Friseurin. Sie konnte sich identifizieren mit den syrischen Flüchtlingen, beim Ratsch auf arabisch. Doch es fühlt sich anders an, wenn plötzlich der eigene Onkel in Whats-App-Aufnahmen davon berichtet, sein Leben verlaufe wie im Horrorfilm.

Sie hat an das Auswärtige Amt geschrieben und um Hilfe gebeten, doch bekam nur eine Pauschalauskunft: leider nur für deutsche Staatsangehörige. Ihr Mann, ihr Chef, alle versuchen, sie ein wenig zu bremsen: "Rita, du kannst nicht die Welt retten", sage sie. Doch dann denkt sie: Dann macht es ja niemand. Also versucht sie jeden Tag, Neues zu erfahren aus Düziçi, 3000 Kilometer weit weg.

Am Donnerstag geht dort ein anderer Syrer ans Telefon, 30, auch aus Damaskus, im Hintergrund sind Lautsprecherdurchsagen zu hören. Er sagt, die Jandarma würden sie zu Verwandten in der Türkei gehen lassen - aber immernoch unter der Bedingung, dass sie ein Dokument unterschreiben, das sie nicht verstehen. Gestern sei jemand von der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR vor Ort gewesen und habe zur Geduld geraten. Er sagt: "Wir vertrauen hier niemandem." Milena Buyum von Amnesty International sagt, die Situation sei weiterhin ungewiss und ernst. Sie hat Kontakt mit einem Iraker, der alles verlor, als das Boot sank. Und der das Dokument unterschrieb, das ihn zur Rückführung verpflichtete. Nun ist er im Irak, "in Lebensgefahr", sagt Buyum. Sie hofft, dass nun niemand mehr in Krisengebiete zurückgeschickt wird, doch der Missstand bleibt ja: "Das sind Flüchtlinge, die ein Flüchtlingslager nicht verlassen dürfen." Rita Frieß hört am Donnerstag spät von Sandra, der Tochter. Die Familie könne vielleicht in zwei Tagen nach Istanbul, erst mal, denn dort kennen sie einen Priester.

Als sich Frieß verabschiedet, lacht sie. Kein Zweifel, sondern viel Hoffnung in ihrem Blick: Ihr Onkel soll bald in Sicherheit sein.

© SZ vom 02.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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