Erding:"Hundsbuam"? Das war einmal

Erding: Die skandalösen Vorfälle in der Ganztagsintensivklasse im Wartenberger Josefheim kommen erst ein Jahr danach - im August 2014 - ans Licht.

Die skandalösen Vorfälle in der Ganztagsintensivklasse im Wartenberger Josefheim kommen erst ein Jahr danach - im August 2014 - ans Licht.

(Foto: Renate Schmidt)

Was in der Wartenberger Heimvolksschule passiert ist, wollte außer den Grünen niemand wirklich wissen. Hinter den Kulissen wurde aber kräftig gearbeitet, um den Image-Schaden zu begrenzen. Eine Chronik

Von Wolfgang Schmidt, Wartenberg

Harry und Lucas heißen zwei der Darsteller, es gibt einen Schulhund namens Zenzi, einen manchmal etwas bärbeißigen Klassenlehrer, gekocht wird von Nonnen und der Unterricht findet auf dem Dachboden statt. Die Story spielt im nordöstlichen Teil des Landkreises Erding unweit der Grenze zu Niederbayern. Verbucht sind 100 Drehtage und 40 Stunden Filmmaterial, das ergibt 94 Minuten mit dem Titel "Hundsbuam - Die letzte Chance". Beschrieben wird der beschwerliche Weg, wie Jugendliche, die an der Regelschule gescheitert sind, doch noch zu einem Schulabschluss kommen können.

Von Juli 2010 bis August 2011 hat der Filmemacher Alexander Riedel die sogenannte Ganztagsintensivklasse (Gik) mit der Kamera begleitet. Herausgekommen "ist ein berührendes Dokument über den respektvollen und konsequenten Umgang zwischen Lehrern und Schülern in einem bewundernswerten Schulprojekt". Was da in Gänsefüßchen steht, ist die Eigenwerbung des Bayerischen Rundfunks. Stolz wie Harry sind im Oktober 2012 nach der Ausstrahlung des Streifens in BR-Alpha gar viele. Es ist eine Superwerbung für die Politik im Landkreis Erding, die die Voraussetzungen für die Gik geschaffen hat, und natürlich auch für das Seraphische Liebeswerk, den privaten Träger des Wartenberger Josefsheims. Es gibt Sponsoren. Der Flughafen sorgt für die Verpflegung der Schüler und auch der Lions-Club trägt sein Scherflein zu dem Projekt bei, das bundesweit in der Zeitungslandschaft Beachtung findet. Es werden der Lobeshymnen viele angestimmt, doch als der Lack Kratzer abbekommt, ist die Tauchstation der Ort, der am höchsten im Kurs steht.

Im Schuljahr 2013/2014 kriselt es gewaltig unter dem Gebälk des Josefheims. Die Vorfälle kommen allerdings erst im August 2014 ans Licht. Es gibt Unstimmigkeiten über die richtige Pädagogik und darüber, was sich der Arbeitstherapeut an Freiheiten nimmt. Es schält sich heraus, dass es an der Gik zu körperlichen Übergriffen und Beleidigungen gekommen ist. Am schwersten aber wiegt der an den Tag gelegte Umgang mit Medikamenten wie Ritalin, die einzelnen Schülern, die unter ADHS leiden, ärztlich verordnet wurden. Die Abgabe erfolgt unregelmäßig bis gar nicht, auf der vorgeschriebenen Medikamentenliste finden sich Verabreichungen auch für Ferien- und Feiertage, an denen die Schüler sich nicht in der Gik aufgehalten haben. Der Arbeitstherapeut findet auch nichts dabei, einem Schüler, dessen Medikamente aufgebraucht sind, einfach die eines anderen zu geben. Die Mutter eines betroffenen Schülers stellt Strafanzeige und die Staatsanwaltschaft Landshut leitet gegen den Arbeitstherapeuten ein Ermittlungsverfahren ein. Außerdem wird von der Mutter bei der Regierung von Oberbayern Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Schulleiter erhoben.

Von der Selbstherrlichkeit des Arbeitstherapeuten weiß der Schulleiter, mehrfach wird er von zwei Lehrkräften auf dessen Verfehlungen hingewiesen. Mit der Süddeutschen Zeitung will er nicht sprechen, er verweist auf das Seraphische Liebeswerk als seinen Dienstherrn. Dort trifft die SZ auf einen erstaunlich auskunftsfreudigen Personalchef. Man könne in der Pädagogik durchaus unterschiedliche Ansichten haben, sagt der. Es mache schließlich einen Unterschied, "ob ich Kinder schände, handgreiflich werde oder jemanden beleidige". Und er nennt als Beispiel für nicht ganz so schlimme Verfehlungen das A-Wort. Interessant ist auch die Einschätzung, wie mit Medikamenten umzugehen sei. Es gebe nun einmal Mitarbeiter, die schlampig arbeiteten "und irgendwelche Listen falsch ausfüllen". Der Personalchef sagt auch noch, dass die Nichtverlängerung des Vertrags mit dem Arbeitstherapeuten im Übrigen nichts mit der Strafanzeige gegen diesen zu tun habe. Dessen Vertrag sei ausgelaufen und nicht mehr verlängert worden, von der Anzeige wisse er nur aus der Zeitung. Die Ideen hätten nun mal nicht "in den Rahmen der Gik gepasst".

Offenbar haben auch die Ideen von Schulleiter und Klassenleiter nicht mehr zusammengepasst. "Es gab Unstimmigkeiten zwischen den beiden", beschreibt der Personalchef das Verhältnis der beiden Pädagogen. Die Versetzung des Klassenlehrers will das Seraphische Liebeswerk aber nicht allein auf seine Kappe nehmen. Daran hätten das Schulamt Erding und die Regierung von Oberbayern schon auch mitgewirkt. Der Mann lässt noch durchblicken, dass man auf die Gik durchaus auch verzichten könne, schließlich sei man ja eher zufällig an diese Klasse gekommen und "wir verdienen kein Geld damit".

Das, so meint man, müsse die Politik auf den Plan rufen. Doch CSU-Landrat Martin Bayerstorfer, der die Ganztagsintensivklasse - zu guten Zeiten - als sein Kind bezeichnet hatte, gibt sich zugeknöpft. Die Konstruktion des Gik-Betriebs mit verbeamteten Lehrern an einer privat geführten Schule macht es den Protagonisten leicht. Die Verantwortlichen können immerzu auf jemanden zeigen, der mutmaßlich noch verantwortlicher ist. So entsteht ein munteres Drückeberger-Spielchen. Bayerstorfer zeigt auf den Schulamtsleiter Hans-Rudolph Suhre, der sei in Personalangelegenheiten schließlich zuständig. Von wegen, sagt der damalige Chef des Staatlichen Schulamts in Erding (inzwischen ist er in Altersteilzeit) und zeigt seinerseits auf die Regierung von Oberbayern. Schließlich handele es sich bei der Heimvolksschule um eine private Einrichtung und da ende seine Zuständigkeit. Anfragen zu einfachsten Dingen werden mit dem Hinweis auf die gebotene "Vertraulichkeit" abgebügelt.

Hinter den Kulissen wird an der Sache kräftig gearbeitet, um den Image-Schaden in Grenzen zu halten. Zu Beginn des neuen Schuljahres werden die in der Gik verbliebenen Schüler samt ihrer Erziehungsberechtigten ins Jugendamt einbestellt, wo sie im Beisein des Leiters der Heimvolksschule in die Mangel genommen werden. Interessant ist: Obwohl die Angelegenheit den Landkreis ja nichts angeht, sitzt ein Jurist des Landratsamtes mit am Tisch. Einer der Buben wird später aus der Gik ausbüxen: Er ist es leid, dass ihm immer wieder vorgebetet wird, dass das, was er selbst miterlebt hat, ja so gar nicht geschehen ist.

Derweil scheint sich das Seraphische Liebeswerk schuldbewusst an die eigene Brust zu klopfen. Auf der Homepage des Josephsheims erscheint eine Art Entschuldigung des Vorstandsvorsitzenden Johannes Erbertseder, die in Wirklichkeit aber nur Nebelkerzen wirft. Zum Beweis des angeblich aufrichtigen Willens, die Zustände an der Wurzel zu packen, wird ein Sündenbock präsentiert. Tatsache ist: Der frühere Leiter des Josefheims musste seinen Posten tatsächlich räumen. Tatsache ist aber auch: Diese Entlassung liegt schon einige Monate zurück und hat nicht das Geringste mit den Vorfällen in der Gik zu tun.

Den Grünen reicht es mit der Geheimniskrämerei. Die Kreistagsfraktion fordert eine lückenlose Aufklärung des Sachverhalts und die Beendigung der Zusammenarbeit mit dem Seraphischen Liebeswerk, das die Grünen nicht mehr für einen geeigneten Partner des Landkreises halten. "Schon gar nicht in einer so hochsensiblen Angelegenheit wie unserer Gik", heißt es in einer Anfrage von Helga Stieglmeier. Für sie ist es "mehr als besorgniserregend", in welche Richtung sich das mit finanziellen Mitteln des Landkreises und aller seiner Kommunen geförderte "Aushängeschild für eine bessere Bildung im Landkreis" entwickele. Und sie fragen Bayerstorfer, wer für diesen Negativtrend die Verantwortung trägt. Der aber hält nicht einmal eine Antwort für nötig.

Der SZ gibt der Erdinger Landrat ein ausführliches Interview und stellt darin wieder fest: "Wir haben hier keine Zuständigkeit." Es gibt für Bayerstorfer nur eine Möglichkeit der Einflussnahme, indem der Landkreis die Haushaltsmittel für die Gik streicht. Er sagt, er wolle aber "nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, weil etwas schief gelaufen ist". Er sagt aber auch, es gebe Dinge "die man nicht tun darf". Der Landrat zeigt sich fest davon überzeugt, dass "das Seraphische Liebeswerk alles daran setzen wird, wieder ordnungsgemäße Zustände herzustellen". Im Übrigen hoffe er, dass "alles nicht so schlimm ist, wie wir momentan befürchten".

Zu den laufenden Verfahren will der Erdinger Landrat aber nur wenig sagen und zieht sich wieder auf die bequeme Position zurück: Das sei strafrechtlich Sache der Staatsanwaltschaft und auf die disziplinarrechtliche Ebene - inzwischen laufen bei der Regierung von Oberbayern auch Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Suhre -, habe er keinen Einfluss.

Die Staatsanwaltschaft in Landshut stellt das Verfahren gegen den Arbeitstherapeuten, dem Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen vorgeworfen werden, relativ schnell ein. Die nach Gutdünken erfolgte Abgabe von Ritalin, die unsachgemäße Lagerung der Medikamente und die unterlassene Sorgfaltspflicht bei der Führung der Abgabeliste sind für die Staatsanwaltschaft nicht gravierend genug, um ein Strafverfahren nach dem Betäubungsmittelgesetz zu eröffnen. Weiter heißt es, eine Körperverletzung durch das Vorenthalten der Medikamente könne nicht festgestellt werden. Die angezeigte verbale Beleidigung des Schülers ist nach dem Ablauf von drei Monaten quasi verjährt. "Strafrechtlich nicht relevant" bedeutet indirekt aber, dass es die beschriebenen Vorfälle tatsächlich gegeben hat, die Vorkommnisse an sich werden also nicht in Abrede gestellt.

Der Rechtsanwalt der Mutter legt gegen die Einstellung Beschwerde ein. Er zweifelt "an der Vollständigkeit und Unvoreingenommenheit der durchgeführten Ermittlungen". In der Tat zeigt sich, dass der mit den Ermittlungen beauftragte Kriminalbeamte die Sache eher mit angezogener Handbremse behandelt hat. Seine Befragungen beschränken sich auf die Anzeigeerstatter und den beschuldigten Arbeitstherapeuten. Die Vernehmung von weiteren Zeugen wie Schülern, die Übergriffe des Arbeitstherapeuten miterlebt, oder Lehrer des Gik-Teams, die die Missstände angezeigt hatten, werden nicht für notwendig erachtet. Auch auf eine Vernehmung des Schulleiters wird verzichtet. Diese dünne Informationslage genügt dem Kripobeamten aber, den betroffenen Schüler als "abweisend und respektlos" einzustufen, der aus Faulheit den Quali nicht geschafft und nur deshalb eine Anzeige gestellt habe. Die Schlampereien bei der Medikamentenabgabe bewertet er in seinem Schlussbericht als "unübersichtlich".

Die Staatsanwaltschaft in Landshut prüft die Beschwerde und findet offenbar Versäumnisse in der Tätigkeit der Erdinger Kripo vor. Das Verfahren wird wieder aufgenommen. Die Kripo hört neue Zeugen. Wiederum nicht darunter sind der frühere Klassenlehrer der Gik und die Sonderpädagogin, die die Schule verlassen mussten. Wieder wird auch auf die Aussage des Schulleiters verzichtet. Als Fazit stellt die Staatsanwaltschaft sinngemäß fest: Es gab viele Verfehlungen, die aber nicht so gravierend waren, um dagegen mit der Härte des Strafrechts vorzugehen.

Geschlampt wird auch bei den Abschlussprüfungen, gegen deren Gültigkeit der Schüler und seine Mutter inzwischen Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht eingereicht haben. Bei der Prüfung war der Kläger am Quali gescheitert. Strittig ist, welchen Anteil die Nichtverabreichung seines Medikaments daran hat. Das ist eine der Fragen, die das Verwaltungsgericht demnächst zu klären hat. Zumindest im Fach Ethik wird aber nach Feststellung der Regierung von Oberbayern eine Aufgabenstellung vorgegeben, die nicht zu lösen ist. Deshalb verbessert die Behörde die Abschlussnote von 3,3 auf 3,0, was bedeutet, dass der Jugendliche die mündliche Prüfung wiederholen kann.

Unter den Benotungsvorgaben des Kultusministeriums hätte der Junge den Quali aller Umstände zum Trotz allerdings gleich geschafft. Sein Rechtsanwalt kann es nicht verstehen, warum ausgerechnet an der Gik mit ihren zum Teil psychisch kranken Schülern strengere Maßstäbe angelegt werden, als es die Richtlinien für bayerische Mittelschulen vorsehen. Für diese Entscheidung hat die Regierung von Oberbayern eine Erklärung von verblüffender Schlichtheit parat: Bei den Vorgaben des Kultusministeriums handele es sich schließlich um reine Empfehlungen - sprich: Der Schule kann wegen dem strengeren Maßstab der Benotung kein Vorwurf gemacht werden.

Auch sonst ist nicht ganz klar, welcher Kurs in München gefahren wird. Die Regierung von Oberbayern nimmt sich für die Aufklärung des komplexen Sachverhalts Zeit. Wie zu erfahren ist, muss sich der Leiter der Heimvolksschule wiederholt unangenehmen Fragen stellen. Die Behörde steht, so sagt ihr Pressesprecher, vor einer umfangreichen Aufgabe. Auslöser und Begleiterscheinung derartiger Beschwerden seien "oft auch Dinge, die im zwischenmenschlichen Bereich angesiedelt sind". Den rechtlichen Rahmen einerseits und die zwischenmenschliche Komponente andererseits auseinander zu halten, sei bei der Prüfung "meist keine leichte Aufgabe". Die Angelegenheit erreicht zwischendurch eine solche "Grundsatzproblematik", dass eine Entscheidung über etwaige Verfehlungen des Wartenberger Schulleiters immer wieder verschoben wird.

Inzwischen scheint die Aufsichtsbehörde der Prüferei überdrüssig geworden zu sein. Jedenfalls will die Bezirksregierung jetzt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft abwarten. Diese Einlassung kommt einigermaßen überraschend. Was hat das Strafverfahren gegen den Arbeitstherapeuten mit der Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Schulleiter zu tun? Zumal dieser von der Staatsanwaltschaft kein einziges Mal gehört wurde? Auch sonst wird die Regierung von Oberbayern ziemlich einsilbig. Die letzte Auskunft an die SZ ist die, es werde keine Auskünfte mehr geben, "soweit es Belange des Datenschutzes und der Persönlichkeitsrechte betrifft".

Bevor es vergessen wird: Es gibt da einen jungen Menschen, der seit mehr als einem Jahr in der Luft hängt, was seinen Schulabschluss angeht.

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