Erding:"Es steht Spitz auf Knopf"

Erding: Claudia Roth schmökert mit Erdings Oberbürgermeister Max Gotz (CSU) im Goldenen Buch..

Claudia Roth schmökert mit Erdings Oberbürgermeister Max Gotz (CSU) im Goldenen Buch..

(Foto: Renate Schmidt)

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth plaudert eine Stunde mit dem Erdinger Oberbürgermeister Max Gotz. Dann wird sie ernst und hält eine Brandrede gegen den Populismus in der Flüchtlingsdebatte

Von Jan-Hendrik Maier, Erding

"Der Herr Köhler war ja da." Claudia Roth staunt, als sie im Goldenen Buch der Stadt Erding die Unterschrift des ehemaligen Staatsoberhaupts Horst Köhler sieht. Am Dienstag trug sich die grüne Bundestagsvizepräsidentin nun selbst in das, wie sie es nennt, "Poesiealbum mit Tagebuchcharakter" ein. Etwa eine Stunde nimmt sich Roth für Oberbürgermeister Max Gotz (CSU) Zeit. Sie will wissen, wo die Konflikte in Erding liegen, wie es um den Wohnungsbau bestellt ist, was die Stadt in Sachen Umwelt unternimmt und wie viele Geflüchtete im Landkreis unterkommen. Gotz gibt lange Antworten und lobt die Erdinger schließlich als "optimistisch" und "nach vorne gerichtet". Danach geht es für Roth zu einer Diskussion im Mayr-Wirt, begleitet von der ausbildungspolitischen Sprecherin ihrer Bundesfraktion, Beate Walter-Rosenheimer, die einen kurzen Vortrag zur Ausbildung junger Flüchtlinge hält.

"Der äußere Frieden sollte 2016 wieder eine Chance haben", sagt Roth. Vor etwa einhundert Zuhörern spricht sie über Außenpolitik, die europäische Mitverantwortung an Fluchtursachen und über die Stimmung im Land. Mehrmals wiederholt sie die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz, das "legale Wege der Migration" für die Menschen schaffe, die keinen Anspruch auf Asyl haben. 2002 sei ein entsprechender Vorschlag an der Uneinigkeit Brandenburgs im Bundesrat gescheitert, seitdem herrsche Stillstand. Deutschland müsse sich endlich an seine strenge Regeln für Rüstungsexporte halten. "Wie können wir Waffen nach Saudi-Arabien und Katar liefern, zwei der Hauptflüchtlingsproduzenten, die den IS unterstützen und die Menschenrechte massiv verletzen?" Roth spricht sich gegen die geplanten Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada aus, da diese die Exportabhängigkeit afrikanischer Länder weiter verstärkten und so Perspektiven zerstörten. Dass die UNHCR nicht ausreichend Geld für die Versorgung der Flüchtlingslager in Jordanien und dem Libanon habe, sei ein "brutales Versagen der internationalen Solidargemeinschaft" und begünstige einen "Flächenbrand" in der ohnehin angespannten Region um Syrien. Ferner müssten umgehend alle an einem Strang ziehen, um das in Paris vereinbarte Eineinhalb-Grad-Ziel zu erreichen, und nicht eine weitere Fluchtursache zu generieren: das Klima.

"Ja, was soll Frau Merkel denn in drei Wochen oder drei Monaten machen?"

"Es steht Spitz auf Knopf bei der Stimmung in unserem Land." Die Debatte, wie Menschlichkeit zu leisten sei, habe sich verschärft. Alle Bürger sollten sich wieder am Grundgesetz orientieren, um die Veränderungen gemeinsam zu meistern. Roth verurteilt den offenen Hass und Rassismus in den sozialen Netzwerken. Tägliche rechtspopulistische Forderungen nach Grenzschließung, Abweisung oder der Festschreibung vermeintlicher Leitkulturen würden weder den Betroffenen noch den Kommunen helfen. Das gelte auch für die "ständig neuen Ultimaten" an die Kanzlerin. "Ja, was soll Frau Merkel denn in drei Wochen oder drei Monaten machen?" Roth fordert, dass der Bund schnell Geld für Sprachkurse, Ausbildungsplätze und Wohnraum zur Verfügung stellt. "Die Integration ist kein Geschenk an die Flüchtlinge, sondern, wenn wir es richtig machen, ein Konjunkturprogramm für alle."

Aber auch auf internationaler Ebene müsse schleunigst gehandelt werden, denn die "ignorante Weigerung" zahlreicher Nachbarstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen, führe Europa an den Abgrund. Mit Sorge blickt die Grünen-Politikerin auf die Türkei, die ein "gespaltenes Land" sei. Trotz des Milliardenversprechens der EU sollte die Kritik an Menschenrechtsverletzungen und an der Einschränkung der Pressefreiheit nicht verstummen. Roth warnt davor, Außenpolitik aus "rein innenpolitischen Erwägungen" zu machen. Das geschehe derzeit "auf paradoxe Weise" bei der Frage nach sicheren Herkunftsländern. Als Beispiel nennt sie Mali, wo die "gefährlichste UN-Mission seit langem" stattfinde. "Und das soll sicher sein?"

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