Charlotte Knobloch in Erding:"Die Demokratie verliert ihr Lebenselixier"

VHS 'Warum Menschen extrem waehlen'

Ein Mittel gegen Extremismus? Dieter Frey, Professor für Sozialpsychologie an der LMU, plädiert für mehr Zivilcourage.

(Foto: Stephan Görlich)

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und der Sozialpsychologie-Professor Dieter Frey bei einer Podiumsdiskussion in Erding

Von Max Ferstl, Erding

Charlotte Knobloch schiebt sich mit bedächtigen Schritten ans Rednerpult. Das Gehen fällt ihr schwer, Treppen schafft sie nur mit Hilfe. Der Meniskus, sagt Knobloch, nichts ernstes. Nichts, was die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern daran hindern würde, ihre Geschichte zu erzählen. Sie ist zu wichtig. Die 84-Jährige hat den Holocaust überlebt, indem sie bei einer Familie, auf einem Bauernhof in Franken, Zuflucht fand. Sie hat nicht vergessen, "wie schnell aus Stimmung Stimmen, aus Stimmen Massenmord werden kann". Gerade jetzt, findet sie, müsse man daran erinnern, was passieren könne, wenn extremistische Ansichten die Politik bestimmen.

Deshalb ist sie am Dienstag nach Erding gekommen. Die Volkshochschule hat bei einer Podiumsdiskussion die Frage gestellt, warum Menschen extrem wählen. Knobloch sei ein "Seismograf", der Extremismus spüre, sagt VHS-Geschäftsführer Claus Lüdenbach. Seit einiger Zeit misst der Seismograf bedrohliche Ausschläge.

Wenn am 24. September ein neuer Bundestag gewählt wird, sagt Knobloch, könnte erstmals eine "völkische, nationalistische, fremdenfeindliche Partei" in den Bundestags einziehen". Knobloch bezieht sich auf die AfD, die aktuelle Umfragen bei elf Prozent verorten. Die Partei könnte drittstärkste Partei werden, obwohl sie mit dem breche, "was jahrelang als demokratischer Konsens galt", zum Beispiel, dem politischen Gegner ein Mindestmaß an Respekt entgegen zu bringen. Es ist noch nicht lange her, da sprach AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland davon, die Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz "in Anatolien zu entsorgen". Trotzdem liege die AfD aussichtsreich im Rennen, "ihre Motive sind salonfähig, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein", sagt Knobloch. Dabei dachte sie, die Zeiten wären vorbei.

Nach dem Krieg konnte sie sich nicht vorstellen, länger in Deutschland zu bleiben. Ihr Vater glaubte damals, das Land könnte sich verändern. "Er behielt Recht", sagt Knobloch. Sie leistete ihren Beitrag, war unter anderem vier Jahre Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Lange konnte sie sich nicht vorstellen, dass es noch Mal einen Rückfall geben könnte. Inzwischen sagt sie: "Der Antisemitismus erlebt eine Renaissance."

Knobloch sieht einen gefährlichen Punkt erreicht, wenn der Vorsitzender der Thüringer Landtagsfraktion, Björn Höcke, eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" fordert. Wenn eben dieser Höcke von Spitzenkandidat Gauland als "Teil der Seele der AfD" bezeichnet wird. Wenn ein 14-Jähriger in Berlin so heftig antisemitisch beleidigt wird, dass er die Schule wechseln muss. "Einer Gesellschaft ohne Tabus droht der Verfall von Innen", sagt Knobloch: "Die Demokratie verliert gerade ihr Lebenselixier." Warum, weiß sie nicht. Sie ist vor allem Zeugin.

Eine Antwort hat auch Dieter Frey nicht, der Professor für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität nähert sich ihr aber an. Deutschland, sagt Frey, sei generell ein privilegiertes Land. Die Bürger würden relativ große Freiheiten, Toleranz, Wohlstand genießen. "Trotzdem fühlen sich 20 bis 40 Prozent unterprivilegiert." Sie hätten Angst, in einer sich rasch verändernden Welt die Kontrolle zu verlieren. Ist mein Job noch sicher? Wird es uns in Zukunft noch so gut gehen wie heute? Die Betroffenen, glaubt Frey, würden sich nach Sicherheit sehnen, nach einfachen Antworten. Dass eine ethnische Gruppe Schuld an all der Unsicherheit sei, wäre so eine einfache Antwort, die verfängt, auch wenn die Realität ganz anders aussehe: "Oft ist die Korrelation zwischen Stereotyp und individuellem Verhalten gleich Null." Die Welt sei zu komplex für einfache Antworten. Darin sieht Frey aber auch eine Chance: "Wir müssen den Menschen stärker die Komplexität der Welt erklären."

Er macht sich da nichts vor: "Wir werden die Ausländerfeindlichkeit nicht schnell reduzieren. Aber wir können Menschen in Zivilcourage ausbilden, dass Menschen widersprechen, wenn jemand Tabus bricht." Damit würde sich viel bewirken lassen. Denn die große Gefahr, sagt Knobloch, heißt: "Gewöhnung".

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