Erding:Das Risiko ist nicht hoch genug

Ein geistig Behinderter droht seinen Nachbarn, sie umzubringen. Das Landgericht urteilt, dass er nicht ernsthaft gefährlich ist

Von Florian Tempel

Jahrelang hat ein 50 Jahre alter Taufkirchener seine Nachbarn beinahe täglich mit üblen Beleidigungen und Beschimpfungen terrorisiert. Die zwei Morddrohungen, wegen denen er nun in Landshut vor Gericht stand, waren nur die Spitzen seiner Entgleisungen. Ein schwieriger Fall, denn der Angeklagte ist groß und kräftig - und geistig behindert. Ein Tumor hat sein Gehirn geschädigt, er hat einen IQ von 65 und paranoide Vorstellungen. Er sei zu Selbstkritik völlig unfähig, erklärte ein Gutachter. Vor allem aber: Es gebe "ein nicht zu unterschätzendes Risiko", dass es nicht bei verbaler Aggressivität bleibe. Es sei gut möglich, dass er irgendwann tatsächlich zuschlagen werde. Er sehe die Voraussetzung für eine dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik erfüllt. Die 4. Strafkammer des Landgerichts entschied anders und verurteilte den Mann zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung - mit der Auflage, dass er sich mit Medikamenten behandeln lässt, die ihn ruhiger machen könnten.

Die Morddrohungen, die der Angeklagte gegen einen 32 Jahre alten Nachbarn und dessen Schwiegervater ausgestoßen hatte, waren erschreckend. An einem Morgen im März 2012, als der Nachbar gerade mit seiner Tochter zur Schule gehen wollte, stand der Angeklagte mit einem Beil in der Hand vor seiner Haustür, klopfte mit der Rückseite des Beils gegen ein stählernes Treppengeländer und ließ seinen Nachbarn wissen, er werde ihn umbringen. Ein Jahr später hatte der Schwiegervater des Nachbarn eine ebenso unheimliche Begegnung mit dem Angeklagten. Er hatte seine Enkelin nach Hause gebracht und war gerade aus dem Auto gestiegen, als er hinter sich einen lauten Knall hörte. Hinter ihm stand der Angeklagte, zielte mit dem Zeigefinger auf ihn und sagte: "Peng, jetzt hätt' ich dich erschossen. Das ist ja einfach. So treffe ich dich leicht. Ich brauch' nur noch eine Pistole, dann bist du der erste, den ich umbring'. Mit dir fang' ich an."

Die beiden angeklagten Morddrohungen waren nur zwei Ausschnitte aus einer Vielzahl von Vorfällen. Der 32-jährige Nachbar und seine 28 Jahre alte Ehefrau haben Dutzende andere in seitenlangen Protokollen festgehalten. So gut wie jedes Mal, wenn sie das Haus verließen oder heimkehrten, komme er aus seinem Haus raus und lege los: Er werde sie umbringen, abstechen, totschlagen, liquidieren. Als die Nachbarin schwanger war, sagte er ihr, sie werde ihr Kind nicht auf die Welt bringen, weil sie vorher sterben werde. Und wenn er ihnen einmal nicht mit Mord und Totschlag drohte, beleidigte er sie mit den übelsten Schimpfwörtern, vor den Augen und Ohren ihrer Kinder. Die junge Nachbarin berichtete, sie sei sogar einige Zeit lang über einen Zaun geklettert, um ihr Grundstück zu verlassen. Weil sie hoffte, dort könnte sie der Angeklagte nicht sehen. Es half nichts. "Wir haben Angst, vor allem um unsere Kinder."

Der Angeklagte stritt alles ab: "Es stimmt gar nichts, hinten und vorne nicht." Und während die Nachbarn ihre Aussagen machten, schrie er von der Anklagebank "Lügner, alles Lüge, Lügengeschichten". Es sei genau andersherum. Seine Nachbarn "stören mich, die ärgern mich" und die Polizei sei von ihnen bestochen. Er aber "mache nichts, gar nichts".

Vor 15 Jahren stand er schon einmal vor Gericht. Er war Mitglied in einem CB-Funker-Club. Als er bei einem Vereinstreffen in einer Gaststätte in Steinkirchen gehänselt wurde, zündete er aus Frust Strohballen in einer Scheune neben dem Lokal an. Das gesamte Anwesen brannte ab. Er musste für zwei Jahre in eine geschlossene Station in der psychiatrischen Klinik in Haar. Der Gutachter im Prozess in Landshut sagte, man dürfe bei der Prognose, ob der Angeklagte für die Allgemeinheit ernsthaft gefährlich werden könnte, diese Brandstiftung nicht außer Acht lassen, auch wenn sie lange zurückliege. Der 32-jährige Nachbar hatte erwähnt, einmal habe der Angeklagte, während er ihn beschimpft habe, ein Feuerzeug an- und ausgeknipst.

Der Vorsitzende Richter Theo Ziegler führte mehrere Gründe an, warum der Angeklagte nicht zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen werden kann. Die Bedrohungen seien nicht schwerwiegend genug. Selbst die Bedrohten hätten sie nicht wirklich ernst genommen. Sie hätten ihnen zwar Angst gemacht, aber nicht, weil sie glaubten, er werde sie wirklich töten. Der Gutachter sehe zwar das Risiko, dass der Angeklagte gewalttätig werden könnte. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwann einmal zuschlage, sei nicht hoch genug, ihn präventiv wegzusperren. Entscheidend für eine einfache Bewährungsstrafe sei, dass er nun bereit sei, sich medikamentös behandeln zu lassen.

Zum Abschluss wandte sich Ziegler an die Nachbarn: "Ich weiß, dass sehr viel passiert ist und Sie viel durchgemacht haben. Nehmen Sie den heutigen Tag als Zäsur, sehen Sie ihn als Neuanfang." Drei ältere Nachbarn, die als Zuhörer zum Prozess gekommen waren, fragten aufgebracht zurück: "Ist es ein Bewährungsverstoß, wenn er mich mit dem Stinkefinger begrüßt? Was ist, wenn er mich wieder fette Sau nennt? Und was ist, wenn er mich wieder anspuckt?" Ziegler wiegelte ab: "Das war alles in der Vergangenheit."

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