Archäologie:Auf Spurensuche

Es sei ein "traumhaftes Projekt": Wissenschaftler am Landesamt für Denkmalpflege versuchen derzeit, die Geheimnisse rund um die spektakulären Oberdinger Spangenbarren zu entschlüsseln. Ein Besuch in den Münchner Werkstätten

Von Mathias Weber

Tagein, tagaus senkt Jörg Stolz seinen Kopf und konzentriert sich. Nur wenige Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt hetzen derweil Menschen durch die Münchner Altstadt: Die Schönen und Reichen flanieren zwischen der Oper und den Geschäften an der Maximilianstraße, die Touristen eilen zum Platzl und lassen sich im Hofbräuhaus typisch bayerisch bespaßen. Zwischen all den Menschen und Jörg Stolz ist nur eine dicke, alte Mauer. Außen herrscht Trubel, innen Ruhe: Hier, in den Werkstätten des Landesamtes für Denkmalpflege, arbeitet Stolz an einem der wichtigsten archäologischen Funde, die jemals im Landkreis Erding entdeckt wurden: Den Oberdinger Spangenbarren, der sich mittlerweile im Besitz der Stadt Erding befindet.

Als einen "Schatz" hat Landeskonservator Sebastian Sommer die Spangenbarren und den gesamten Hort bezeichnet, den man bei Bauarbeiten in Oberding gefunden hatte. Harald Krause, der Leiter des Museums Erding, erwartet ein "Glanzstück", wenn die einzelnen Spangen einmal in Erding ausgestellt werden. Und auch Restaurator Jörg Stolz, der bestimmt kein Typ für Übertreibungen ist, nennt den Fund ein "traumhaftes Objekt". Der wurde schon einmal mit dem berühmten Ötzi verglichen: Wie auch der Mann aus der Steinzeit sind der Spangenbarrenhort sowie eine an den Hort angrenzende Müllgrube extrem gut erhalten; und auch die gesamte Dokumentation des Fundes ist sehr viel besser als in vergleichbaren Fällen. Am Landesamt in München setzt man daher große Hoffnungen auf den Fund: Man erwartet Antworten auf ein Vielzahl von Fragen, die vielleicht das Leben unserer Vorfahren in der frühen Bronzezeit vor knapp 4000 Jahren besser erklären könnten. "Innerhalb der Archäologie ist das ein einzigartiges Projekt", sagt Jörg Stolz. Bevor die Spangenbarren aber ihre Geheimnisse freigeben, müssen Stolz und seine Kollegen auf Spurensuche gehen. Es gibt keinen Aspekt des Fundes, der nicht untersucht wird, der Aufwand ist groß. Aber was ist ein Spangenbarren überhaupt? Vor knapp 4000 Jahren haben die Menschen im Alpenraum angefangen, Kupfer zu verarbeiten. Um sie besser transportieren zu können, wurde sie nach dem Schmelzen in Spangen geformt, ähnlich einer Haarspange - im Erdinger Fall auch breiter. Diese Spangen wurden zusammengelegt und verknotet - das sind die Spangenbarren. Und da stehen die Wissenschaftler auch schon vor der ersten Frage, vielleicht der wichtigsten des gesamten Projektes. Warum wurden diese Spangenbarren dort abgelegt, wo sie gefunden wurden? Jörg Stolz sagt, es gäbe bei solchen Spangenbarrenhorten zwei Interpretationsstränge. Zum einen könnte ein solcher Hort ein reines Depot gewesen sein; ein Händler, der mit den damals sehr wertvollen Kupferspangen unterwegs war, könnte sie dort versteckt, oder auch einfach vergessen haben. Die andere Interpretation: Es handelt sich um eine "kultische Niederlegung", wie Stolz sagt, also um eine Opfergabe an die Götter.

Dies ist eine zentrale Frage, die sich aber wohl nicht abschließend klären lassen wird. Sieht man sich aber die Situation an, in der die Spangen gefunden wurden, könnte man spekulieren: Neben dem Hort befand sich nämlich die Abfallgrube. Auch dieser Grube und ihren Inhalten wird im Landesamt viel Aufmerksamkeit zuteil. In ihr wurde zum Beispiel Keramikscherben gefunden, die alle aus einer Epoche stammen, so viel kann man schon sagen. Eine Kollegin von Stolz untersucht die Erde um die Fundstelle herum. Man fragt sich, was zuerst da war: die Abfallgrube, der Hort, oder wurde beides gleichzeitig angelegt? Und würde man, wenn man weiß, dass sich in direkter Nähe eine Abfallgrube befindet, dort wertvolles Kupfer den Göttern opfern?

"In der Summe der Daten", sagt Restaurator Stolz, "wird es immer aussagekräftiger." Nach und nach nähern sich die Wissenschaftler immer weiteren Erkenntnissen - und zwar ganz vorsichtig. Denn Überraschungen gibt es immer wieder, und eine der ersten Überraschungen war schon ein ziemlicher Hammer. Denn keinem war klar, als die ersten Spangen aus der Erde auf dem Baugebiet bei Oberding ragten, wie viele Barren sich dort eigentlich verstecken. Einen großen Block hat man schließlich aus dem Oberdinger Boden herausgeschnitten, der gerade so in den Kleintransporter des Landesamtes passte. Man hat den Block geröntgt, aber erst der aufwendige Scan des Blocks in Deutschlands größtem Computertomografen in Fürth hat zu einem klaren Bild geführt: Nicht nur ein paar Dutzend Spangen befinden sich im Erdreich, es sind um die 800 Spangen, die dort in zwei Blöcken freigelegt wurden - eine Sensation. Aber auch das ist eine Frage, die noch zu beantworten sein wird: Wurde der kleinere Block mit 141 Spangen ungefähr zur selben Zeit niedergelegt wie der zweite, viel größere Block mit fast 670 Spangen? Wie eine so genannte RFA-Analyse ergeben hat, bestehen die einen Spangen aus einem, andere Spangen aus einem anderen Erztyp - lässt das auf zwei verschiedene Niederlegungen schließen?

Den ersten, kleineren Block hat Jörg Stolz schon freigelegt. Nach und nach hat er die Erde um die Spangen abgetragen; schon im CT hat jede Spange eine Nummer zugeteilt bekommen, Stolz versieht also jetzt auch jede Spange mit einem kleinen Zettel mit der jeweiligen Nummer. Eine halbe bis eine dreiviertel Stunde braucht Jörg Stolz, bis er eine Spange freigelegt und bearbeitet hat; "bei fast 700 Spangen kann man sich den Arbeitsaufwand vorstellen", sagt er.

Schon jetzt lässt sich über die einzelnen grau-grünen Spangen sagen: Sie sind überraschend unterschiedlich. Weil sie ganz offensichtlich mit Baumbast in Zehnerbündeln zusammengefasst wurden, hätte man vermuten können, dass die Spangen ein "prämonetäres Wertesystem" darstellen, wie Stolz sagt - also ein Vorläufer von Geld. Aber dazu müsste das Gewicht der einzelnen Einheiten ähnlich sein. Ist es aber nicht: Die einzelnen Spangen, wie sich nun herausgestellt hat, sind ganz unterschiedlich. Die schwerste Spange ist doppelt so schwer wie die leichteste (im Mittel sind sie 90 Gramm schwer); außerdem sind die Spangen unterschiedlich lang und haben an ihren Enden verschieden ausgeprägte Abschlüsse, was auf mehrere Gussformen schließen lässt.

809 Spangen

So viele Kupferspangen befanden sich in dem bronzezeitlichen Hort, der bei Oberding gefunden wurde. Das vermutete man zumindest nach einem CT-Scan: Denn noch sind nicht alle Spangen aus dem Erdreich freigelegt, es könnten also noch ein paar mehr Spangen sein. Trotzdem ist der Fund schon jetzt bei Weitem der größte Bayerns. In den 20er-Jahren wurde im Münchner Luitpoldpark bei Bauarbeiten ein Hort mit ungefähr 500 Spangen gefunden - dessen archäologische Dokumentation war aber sehr viel schlechter als jetzt im Landkreis Erding.

Jörg Stolz, der sich schon in der Vergangenheit mit metallischen Fundstücken beschäftigt hatte, wird noch einige Zeit an den Spangen arbeiten. Hunderte liegen noch im großen Block in der Werkstatt - wer weiß, welche Geheimnisse sie noch preisgeben werden. Finanziell ist das Projekt weiterhin gesichert: Der Erdinger Stadtrat - die Erding hat die Spangenbarren der Gemeinde Oberding abgekauft - hat weitere Mittel für die Forschung zugesagt. Dafür hat Jörg Stolz nur Lob übrig: Es seit toll, wie die Stadt hinter dem Projekt stehe, das gäbe es nicht überall.

Absehbar, sagt der Restaurator, sei schon jetzt, dass es durch die Spangenbarren viele neue Ergebnisse über das Leben in der Bronzezeit geben werde. Die Ergebnisse will das Landesamt auch stets veröffentlichen, am Ende wird die Arbeit auch in einer Ausstellung im Museum Erding münden, wo einige der Barren und andere Artefakte aus dem Umfeld ausgestellt werden sollen; angedacht ist ein Termin zum Archäologischen Sommersymposium in Erding im Sommer 2017.

Bis dahin wird Jörg Stolz tagaus, tagein den Kopf senken und mit voller Konzentration die Spangen untersuchen. Es macht ihm nicht viel aus: "So ein Artefakt findet man einmal alle 100 Jahre. Wenn man das dann bearbeiten darf", sagt er, "dann ist das durchaus sehr schön."

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