Amtsgericht Erding:Reden ist besser als Schweigen

Verleumdungsklage gegen 70-Jährigen endet mit Freispruch. Nach Meinung von Richterin Michaela Wawerla kann die Äußerung des Verdachts eines sexuellen Übergriffs auf ein Kind wichtiger sein

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Das Dilemma, in dem Richterin Michaela Wawerla und der 70-jährige Angeklagte steckten, war groß: Was ist wichtiger? Zu schweigen, wenn man den Verdacht hat, dass ein Kind sexuell missbraucht wird, ohne dass man auch Beweise hat, oder darüber reden und damit zuletzt einen Familienkrieg auslösen? Der Angeklagte hatte sich für Letzteres entschieden und sich damit eine Anzeige wegen Verleumdung eingehandelt. Den Verdacht, dass sie so was getan habe, wollte nämlich die 66-Jährige nicht auf sich sitzen lassen. Sie würde "tot umfallen, wenn was passiert sei". Nach der Befragung der Zeugen musste Richterin Wawerla allerdings feststellen, dass sie Zweifel an der "hundertprozentigen Glaubwürdigkeit" der Frau hat. Letztendlich wertet sie deshalb das Interesse des Angeklagten, zum Schutz des Kindes an die Öffentlichkeit zu gehen, höher, zumal er "Anhaltspunkte" gesehen habe, dass nicht alles völlig aus der Luft gegriffen sein könnte. Sie sprach ihn deshalb vom Vorwurf der Verleumdung frei.

Auslöser von allem soll ein Telefonat gewesen sein, das der Angeklagte mit der 66-Jährigen geführt haben soll. Dabei sei es eigentlich um die Taufe seiner Enkelin gegangen, sagte der 70-jährige Angeklagte. Im Gespräch habe sie ihm erzählt, dass der 15-jährige Sohn einer seit vielen Jahren befreundeten Familie bei ihr für eine Woche wegen eines Praktikums am Ort da gewesen sei. Und sie habe an seinem Geschlechtsteil, von ihr "Pippi" genannt, herumgespielt. Dann habe sie gefragt, "das sei aber nicht schlimm, oder?" Wo doch das dem Jungen gefalle.

Der Angeklagte sagte, er habe lange mit sich gerungen, aber dann habe er seiner Frau und Tochter davon erzählt, und die hätten ihm geraten, nicht länger darüber zu schweigen. Im September, rund fünf Monate später, habe er dann die Oma des Kindes angerufen. Diese bestätigte den Anruf. Sie sei umgehend zu ihrer Tochter, der Mutter des Kindes, gefahren und habe mit ihr geredet. In Anwesenheit des Kindes. Anschließend sei man zur 66-Jährigen, ihrer Schwester gefahren. Diese sei in Tränen ausgebrochen und habe gesagt, dass nie was gewesen sei, dass alles gelogen sei. "Ich glaube meiner Schwester", sagte sie vor Gericht. Warum der Angeklagte so schwere Vorwürfe erhebe, könne sie sich auch nicht erklären, die Kontakte seien immer gut gewesen.

Auch der 15-Jährige beteuerte vor Gericht, dass ihn seine "Zweitoma" nie an den Geschlechtsteilen angefasst habe. Er sagte aber auch aus, dass sie ihn sehr wohl schon mal nackt gesehen habe, als er vom Bad in sein Zimmer bei ihr gegangen sei. Zudem habe sie ihn jeden Tag geweckt. Die 66-Jährige hatte zuvor beteuert, ihn nie nackt gesehen zu haben und auch sonst ihm nie näher gekommen zu sein.

Doch auf mehrfache Nachfragen des Verteidigers, des Angeklagten und der Richterin stellte sich heraus, dass es in der Vergangenheit offenbar doch Vorfälle gegeben hatte. "Kann schon sein", lautete mehrmals die Antwort der Schwester der 66-Jährigen. Zum Beispiel, dass ihre Schwester ihren Mann sexuell angegangen sei. Auch der Sex mit ihrem Stiefbruder wurde angesprochen. Aber sie habe damals nichts gesagt, um keinen Streit in der Familie auszulösen. Zudem wisse sie nicht, was solch "alte Sachen" mit dem jetzigen Fall zu tun hätten. "Wenn es um die Glaubwürdigkeit geht, kann es schon sein, dass man schmutzige Wäsche waschen muss", sagte die Richterin.

"Es liegt einiges in der Familie im Argen wohl", musste sogar der Staatsanwalt am Schluss feststellen. Der Vorwurf, den der Angeklagte geäußert habe, gehöre aber zu den "schwerwiegendsten, die man über eine andere Person erheben kann". Er könne einen Ruf nachhaltig schädigen, auch wenn nichts passiert sei. Und da sich der erhobene Vorwurf gegen die 66-Jährige nicht bestätigt habe, sei der Angeklagte wegen Verleumdung zu verurteilen.

Richterin Michaela Wawerla schloss sich aber den Ausführungen des Verteidigers an. Der hatte gefragt, was besser gewesen sei: Zu schweigen, um zuletzt später fest zu stellen, dass alles tatsächlich passiert ist oder einen Familienkrieg aus Verdacht heraus auszulösen. Die Wahrheit werde man an diesem Tag nicht herausfinden, sagt die Richterin. Aber das sei nicht Teil der Verhandlung, sondern der Vorwurf der Verleumdung. Für sie rechtfertige der Versuch des Angeklagten, den betroffenen 15-Jährigen, vor weiteren möglichen sexuellen Übergriffen zu schützen, sein Gehen an die Öffentlichkeit beziehungsweise den Verdacht der Familie mitzuteilen. Ob die 66-Jährige tatsächlich dem Angeklagten etwas am Telefon gestanden habe, könne in dieser Verhandlung nicht endgültig geklärt werden. Dessen Handlung sei deshalb keine Verleumdung und er müsse freigesprochen werden.

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