Entdeckerlust:Nur nicht abschalten

Seniorenheim-Theatergruppe in der Westendstraße 174 (Hochhaus) im App. 1206.

In Gesprächen mit Bewohnern des Altersheims haben Fritz Heegner und seine Frau Antje Resignation festgestellt. Das wollten sie ändern.

(Foto: Florian Peljak)

Spielen gegen den Endstation-Komplex: Antje Heegner, 79, und ihr Mann Fritz, 85, haben in der Seniorenresidenz am Westpark eine Theatergruppe gegründet

Von Gerhard Fischer

München - Vier Menschen, die zusammen 342 Jahre alt sind, sitzen um einen Tisch herum, halten grüne Blätter in der Hand und lesen Szenen aus einem Theaterstück. Antje Heegner ist 79, Erika Dieling 83 und Fritz Heegner 85. Die vierte Vorleserin ist 95. Sie heißt Marieluise Schweer, raucht seit 75 Jahren und spielt auch noch Billard im Schelling-Salon. Aber das ist eine andere Geschichte.

In dieser Geschichte geht es um Menschen, die in der Seniorenresidenz am Westpark mehr machen wollen als zu Mittag essen, zu Abend essen und mit Filzpantoffeln im Ohrensessel sitzen; und die das gesundheitlich natürlich auch noch können. Es sind Menschen, die szenische Lesungen proben und aufführen, die einen Literaturkreis besuchen und einen Film des Monats zeigen. Und es geht in dieser Geschichte vor allem um die Initiatoren dieser Veranstaltungen, um Antje und Fritz Heegner. Die beiden haben ein bewegtes Leben hinter sich - auch im Sinne von mobil oder sogar rastlos: Antje Heegner, früher Bibliothekarin, und Fritz Heegner, ein Professor der Psychologie, lebten schon in halb Deutschland, in Berlin, Essen oder Detmold, und zwischendurch auch in den USA; Fritz Heegner hatte einen Lehrauftrag in Kalifornien.

Vor gut drei Jahren zogen sie in die Seniorenresidenz am Westpark. Aber sie setzten sich nicht zur Ruhe. Fritz Heegner sagt, seine Frau und ihn treibe eine "epistemische Neugier" - eine Entdeckerlust auf allen kulturellen Gebieten. Ihr Schwerpunkt sei die Literatur. Nein, Heegner hat das nicht gesagt, er hat das geschrieben. Vor dem Treffen in der Seniorenresidenz hat er nämlich einige E-Mails geschickt. Er hat sie oft eröffnet mit "können se" oder "hören se" - mit jenem jovialen Gerhard-Schröder-Deutsch, das gleichzeitig lässig und kumpelhaft klingt. In einer Mail sandte er eine Kurzgeschichte, die er selbst geschrieben hatte, es ging um die Probleme einer Patchworkfamilie in Israel. Witzig ist sie. Interessant. Und elegant verfasst.

In einer anderen Mail hat er die Motivation beschrieben, warum er und seine Frau diese kulturellen Betriebsamkeiten in der Seniorenresidenz angeschoben haben: den Literaturkreis, die Theatergruppe, diese Dinge. In Gesprächen mit Bewohnern hätten sie "Resignation, Isolation, depressive Anklänge und Verminderung des Selbstvertrauens" festgestellt, schrieb Heegner; er nennt das "Abstellgleis- oder Endstation-Komplex". Dagegen wollten sie etwas tun.

Bereits ein halbes Jahr nach dem Einzug im Westpark gründete Antje Heegner einen Lese- und Gesprächskreis, der heute 14 Mitglieder hat. Dort werden Klassiker gelesen, Goethe, Mann und Konsorten, aber auch Modernes und Selbstgeschriebenes. Einmal hat ein Mann, der an Parkinson leidet, etwas Eigenes vorgelesen. Er hat sich sehr viel Mühe gegeben, Fritz Heegner sagt, "er musste sich die Sprache abringen". Aber er habe alle beeindruckt, denn seine Worte waren "wie Perlen an einer Schnur" aneinander gereiht. "Das war wohl sein offizieller Abschied von der Sprache", sagt Heegner.

Das Theaterstück "Das gestohlene Vertrauen" spielt auch im Altersheim

Fritz Heegner ist lebendig, eloquent, ein Wortspieler. Immer muss ein Witz gerissen oder eine Pointe gesetzt werden. Antje Heegner wirkt eher ruhig und sachlich. Die Worte, die sie sagt, müssen stimmen und sitzen. Sie trumpft nie auf. Die beiden schreiben zusammen ein Tagebuch. Es geht da nicht um intime Dinge, es geht um Theater, Natur, Museen, Menschen - um alles, was sie so erlebt haben oder wer ihnen begegnet ist. Sie schreiben auch Reiseberichte, "mit ironischer Distanz", wie Fritz Heegner eigens betont, aber man hätte es sich denken können. Bierernst ist nicht sein Ding. Die Berichte werden dann in der Hauszeitung der Seniorenresidenz veröffentlicht.

Und Fritz Heegner hat das Theaterstück "Das gestohlene Vertrauen" geschrieben. Es geht um ein altes Paar, sie heißen Bettina und Berthold. Eines Tages kommen zwei Frauen von der Sozialbehörde, sie sollen prüfen, ob die alte Frau dement ist und vielleicht für unmündig erklärt werden soll; der Sohn der Frau will es so.

An diesem Nachmittag wollen Antje und Fritz Heegner mit zwei anderen Damen aus der Seniorenresidenz die zweite Szene im zweiten Akt proben. In der Wohnung der Heegners im zwölften Stock. Man hat einen schönen Blick über München, im Osten ragt die mächtige Sendlinger Kirche in den Himmel.

Zunächst kommt Erika Dieling herein, sie stellt sich vor und sagt "Erika Dieling, 83". Wenig später klingelt es noch einmal, es ist Marieluise Schweer, sie sagt nur ihren Namen. Wie alt war sie gleich noch mal? 95! Nicht zu glauben. Sie bewegt sich sicher, und sie sieht aus wie 75. "Ich habe ungesund gelebt und positiv gedacht", sagt sie. Auch sie macht gerne Witze, wie Fritz Heegner. Alle setzen sich und erzählen erst mal von sich.

Erika Dieling war früher "Betriebsrätin im Gastgewerbe", sagt sie, Marieluise Schweer war im Betriebsrat bei Mercedes. Sie haben also gearbeitet. Und sie wollen auch jetzt etwas tun. Nur nicht abschalten, was einmal aktiv gewesen ist. Nur nicht verkümmern. Bei ihnen haben die Heegners mit ihrem Kultur-Angebot offene Türen eingerannt. Andere mussten erst ermuntert, überzeugt, angeschoben werden.

"Reicht das Licht?", fragt Fritz Heegner, als sie beschließen, mit den Proben zu beginnen. "Wir brauchen dann noch die Aktentasche", sagt Erika Dieling. "Eigentlich müssten wir von draußen reinkommen", sagt Marieluise Schweer. Das Licht reicht, die Aktentasche ist da, für die Lesung kann man auch gleich am Tisch sitzen, das Hereinkommen erübrigt sich also. Apropos: Bleibt das eine szenische Lesung oder wird daraus ein richtiges Theaterstück? Fritz Heegner hofft, dass sie frei spielen werden. Er sagt es nicht nachdrücklich, aber man merkt, dass es sein Plan ist. Doch die Damen am Tisch zweifeln; schließlich müsse man dann alles auswendig lernen. Sie könnten es, ganz sicher. Aber wollen sie es?

Erst mal proben. Und erst mal lesen - bis Oktober muss es sitzen. Die angenehm unprätentiöse Erika Dieling betont prima, Fritz Heegner artikuliert und gestikuliert, Marieluise Schweer liest lässig und Antje Heegner stellt die Emotionen sehr gut dar: das Hasenherzige, als sie von den Sozial- behörde-Damen auf ihre Demenz geprüft wird, und die tiefe Verzweiflung über die mutmaßliche Herzlosigkeit ihres Sohnes.

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