Engpass bei der Hilfe:Deutliche Versorgungslücke

Franz Josef Freisleder dankt Hörsaal-Spenderin Ruth Rosner, 2013

Franz Joseph Freisleder, Direktor des Heckscher Klinikums, berichtet von steigenden Fallzahlen.

(Foto: Robert Haas)

Experten plädieren für einen Ausbau der ambulanten Betreuung

Von Martina Scherf

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist heute deutlich mehr im Fokus der Öffentlichkeit und auch besser ausgestattet, als das noch Ende des vergangenen Jahrhunderts der Fall war. Es gibt stationäre Kliniken, Ambulanzen, Tageskliniken und eine Reihe von ambulanten Hilfen für Krisensituationen. Allerdings ist auch der Bedarf höher als früher. Denn die Anforderungen an Jugendliche steigen ständig, in Familie, Schule, Beruf, Freizeit, sozialen Netzwerken. Nicht alle können da mithalten.

Als sich die führenden deutschen Kinder- und Jugendpsychiater im vergangenen Jahr in München trafen, stand der Kongress unter dem Titel "Veränderte Gesellschaft, veränderte Familien". Was darunter zu verstehen sei, erklärte die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie so: Neben einer genetischen Veranlagung oder belastenden Faktoren während der Schwangerschaft der Mutter seien Krisensituationen im jungen Leben oft Auslöser für psychische Auffälligkeiten oder Störungen. Das könnten die Scheidung der Eltern sein oder Mobbing in der Schule, dem die Lehrer oft hilflos gegenüber stünden. Fast 30 Prozent der Schüler seien heute mit Cybermobbing und Mobbing konfrontiert, knapp die Hälfte davon spreche über das Erlebte nicht und schäme sich für das "eigene Versagen". Ein erhöhtes Risiko trügen Migrantenkinder, entweder, weil sie traumatische Erlebnisse auf der Flucht zu verarbeiten hätten, oder weil ihre Eltern nicht gewohnt seien, in Krisensituationen Hilfe von staatlicher Seite zu suchen, und sich schämten, wenn etwas in der Familie "schief laufe".

Nicht jede Störung ist gleich lebensbedrohlich

Für die Therapeutin Silke Meyer-Ries sind ADHS-Kinder, also Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung, auch "Indikatoren für unser System, das vielfach zu viel Stress erzeugt und immer nur Anpassung verlangt". Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts reagieren Mädchen unter extremen Belastungen eher mit Ängstlichkeit und Depressivität, Jungen dagegen eher mit Hyperaktivität und Verhaltensproblemen.

Suizidalität ist eine der häufigsten Todesursachen im Jugendalter. Allerdings steigen die Zahlen nicht an. Und nicht jede Störung ist gleich lebensbedrohlich. Ob dies der Fall ist, das muss der diensthabende Arzt in der Notaufnahme der Klinik oft binnen Minuten entscheiden.

Der Bedarf sei jedenfalls gestiegen, bestätigt Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor des Heckscher Klinikums in München, das für den ganzen Bezirk Oberbayern zuständig ist und derzeit über 75 vollstationäre Betten in München verfügt. "Es gibt heute Wochenenden mit sieben bis zehn Akutaufnahmen", sagt Freisleder. Seien in den 1990er Jahren noch drei Viertel der minderjährigen Patienten mit Vorlaufzeit in die Klinik gekommen und nur ein Viertel als Notfälle, habe sich das Verhältnis heute umgekehrt.

"Einerseits ist es positiv, dass man sich heute in einem Krisenfall schneller an uns wendet", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater, "andererseits muss man sagen: Nicht jeder Jugendliche mit einer suizidalen Geste ist tatsächlich ein Fall für die geschlossene Station." Ob ein Kind schwierig, problematisch oder wirklich krank sei, das sei oft ein fließender Übergang. Freisleder plädiert daher auch für einen Ausbau der ambulanten Jugendhilfe. Viele Probleme könnten damit schon früh aufgefangen werden, sagt er.

Auch Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität, findet, dass eine intensivere Betreuung von psychisch gefährdeten Jugendlichen in ihren Familien nötig wäre, "um diejenigen zu erreichen, die den Weg zum Facharzt oder in die Klinik von sich aus nicht schaffen". Auch für die Nachsorge nach einem stationären Aufenthalt wäre ein solches "Home Treatment" wichtig. Hier bestehe eine "deutliche Versorgungslücke".

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