Elfriede Jelinek: "Rechnitz":Die Obszönität des Bösen

Die Greuel der Vergangenheit umtänzeln und sich dabei lüstern an die Unterwäsche gehen: Elfriede Jelineks "Rechnitz (Der Würgeengel)" feierte Uraufführung an den Münchner Kammerspielen.

Christine Dössel

Elfriede Jelinek hat sich den Rahmen für ihr Stück "Rechnitz (Der Würgeengel)", in dem es um ein Massaker an 180 Juden als Höhepunkt einer NS-Promi-Party geht, so vorgestellt: "Ein Schloss in Österreich. Jagdtrophäen an den Wänden. Boten und Botinnen kommen von überall her, zum Teil in desolater Abendkleidung, zum Teil als Fahrradkuriere gekleidet, sie laufen herein, in immer kürzeren Abständen, bis irgendwann einmal der Raum gedrängt voll ist."

Ab und zu sollte dann jemand "in eleganter Abendkleidung, aber mit Gewehr" hereindrängen und durch das Fenster schießen, während manche Boten immer dann, wenn von Deutschland die Rede ist, einen "gespielten Selbstmordversuch" unternehmen. Aber, schreibt Jelinek, "man kann das natürlich, wie immer bei mir, auch vollkommen anders machen".

Der Jelinek-erprobte Regisseur Jossi Wieler, der das Stück nun in stark kondensierter Form in den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung brachte, macht es anders - intimer, konzentrierter: In einem mit dunklen Parketthölzern getäfelten Raum, in dem ein einzelnes Hirschgeweih den Jagdschlosscharakter markiert (Bühne und Kostüme: Anja Rabes), swingen, Zähne bleckend und huldvoll winkend, fünf Personen herein: zwei Frauen (Hildegard Schmahl und Katja Bürkle), drei Männer (André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf), fünf Schauspieler von betörender Brillanz.

Sie tragen Abendgarderobe und eine unerhört gute Laune zur Schau, und die Blicke, mit denen sie ihre Zuhörerschaft zur heiteren Wohlfühlmusik von Wolfgang Siuda ins Visier nehmen, sind so schamlos herausfordernd, lasziv und direkt, dass einem angst und bang werden könnte.

Der danse macabre, mit dem sie in den folgenden zwei Stunden zu musikalischen Motiven aus dem "Freischütz" die Greuel der Vergangenheit rhetorisch umtänzeln und sich dabei lüstern an die Unterwäsche gehen, ist auch ein Tanz der Vampire: Diese fünf "Boten", die als Gesellschaft von Eingeschlossenen Luis Buñuels Film "Der Würgeengel" zitieren, sind nicht nur widerliche, sich windende und widersprechende Augenzeugen, Berichterstatter, Mauerschauer, die immer wieder betonen, dass sie ja eigentlich gar nichts gesehen haben ("Sie wissen, wie weit man uns glauben kann!"), sondern sie sind auch die Täter, die Mörder, die ewigen Mitmacher oder eben deren böse Geister: Zombies der Geschichte - Untote, wie sie durch alle Jelinek-Stücke spuken.

Denn die Toten, die geben keine Ruh, und Elfriede Jelinek lässt uns nicht mit ihnen in Frieden. Immer gräbt sie nach den Leichen in unserer Vergangenheit und unserem Bewusstsein und macht, schmerzvoll obsessiv, die Drecksarbeit. Aber eine muss es ja tun.

Die Obszönität des Bösen

Rechnitz - der Ort im österreichischen Burgenland an der Grenze zu Ungarn steht für ein Massaker, das in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 geschah. In jener Nacht feierte Gräfin Margit Batthyány, geborene Thyssen, auf ihrem Schloss ein so genanntes Gefolgschaftsfest mit Nazi-Größen, zu denen auch der NS-Ortsgruppenleiter Franz Podezin, ein Geliebter der Gräfin, gehörte.

180 Tote als Partyeinlage

Um Mitternacht wurden an einen Teil der Gäste Gewehre ausgegeben, und dann zogen sie los zum "Kreuzstadel", wo sie die dort verwahrten jüdischen Zwangsarbeiter erschossen und erschlugen: fast 200 entkräftete, halb verhungerte Männer - "the hollow men" nennt sie Elfriede Jelinek nach einem Gedicht von T. S. Eliot -, die zu schwach waren, um sie noch, wie ihre jüdischen Leidensgenossen, für den Bau des "Südostwalls" einzusetzen, mit dem die heranrückende Rote Armee abgewehrt werden sollte.

Nach dem Gemetzel ging die Party weiter. Die Leichen wurden verscharrt, ihre Gräber nie gefunden. Und die Bewohner von Rechnitz haben gegen alle Fragen einen Südostwall des Schweigens errichtet. Durch einen Artikel des britischen Journalisten David Litchfield, der vor einem Jahr in der FAZ erschien, schwappte der Fall wieder hoch.

Neu war das Berichtete nicht. Die Vorgänge sind, nicht zuletzt durch den Dokumentarfilm "Totschweigen" von Eduard Erne, gut dokumentiert. Es gab sogar einen Prozess, dem sich die Beteiligten freilich zu entziehen wussten. Gräfin Batthyány starb 1989 als glückliche Pferdezüchterin in der Schweiz, ihr Gutsverwalter Oldenburg (ein weiterer Geliebter) floh nach Argentinien, Podezin nach Südafrika.

Das alles muss man wissen, um die anspielungsreichen, zynisch kalauernden, wild und wütend in alle Richtungen spekulierenden und assoziierenden Satzkaskaden zu verstehen, mit denen Jelinek hier Erinnerungsarbeit nicht nur betreibt, sondern auch als sich selbst bestätigende Fleißaufgabe der Wohlgesinnten decouvriert: "Stolz büßen, stolz bereuen" - wer meint, er habe die Vergangenheit brav bewältigt und die Geschichte im Griff, kriegt hier gewaltig eins vor den Latz.

Meisterlich verplappert

Was Jelinek bei aller - bewusst enervierenden - Geschwätzigkeit, Redundanz, Wortwitz- und Leerlaufrhetorik virtuos vorführt, sind die Abgründe unseres Sprechens, ist das beredte Verschweigen, das Darüberhinwegreden, die Kunstfertigkeit, sich die Wahrheit diskutierend und scheinbar reflektierend vom Leib zu halten.

Jossi Wieler hat das sich schwerfällig über hundert Din-A4-Seiten erstreckende Textkonvolut um bestimmt zwei Drittel gestrichen und in großer Unaufgeregtheit auf seine fünf grandiosen Schauspieler verteilt. André Jung ist der nervöse Analytiker, der sich immer wieder meisterlich verplappert und uns ermahnt, unsere "kognitive Distanz" zur Vergangenheit doch bitte nicht im "Casino des Denkens" aufs Spiel zu setzen.

Hans Kremer gibt den gelassenen Realisten, der schnell mal sein "schweres historisches Gepäck" abstellen will, und siehe: Schon purzeln Gewehre auf die Bühne, später Pelze, gehäutetes Tier. Steven Scharf gefällt sich als lüsterner Platzhirsch mit stechendem Blick, und die beiden Damen bieten triumphierend ihren Körper dar, Hildegard Schmahl mit einem grausigen Kinderunschuldslächeln, Katja Bürkle mit einer Frivolität, die ihr aufreizendes Unterhöschen schamlos unterstreicht.

Jossi Wieler macht das Schwere leicht und findet sinnstiftende, manchmal fast zu eingängige Bilder für das Orgiastische des Tötens und des Redens. Er lässt seine "Boten" Pizza, Hendl und Torte mampfen, Eier aufschlagen und Schnäpse saufen, und immer wieder formieren sie sich zu Körperknäueln. Es ist auch eine Fleischbeschau. Wieler inszeniert nicht nur die Banalität, sondern auch die Obszönität des Bösen. So gewinnt dieser Gute-Laune-Abend etwas zutiefst Beklemmendes

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