"Eine Herausforderung":Kleine Gesten, große Wirkung

"Eine Herausforderung": Im Alltag gestikuliert sie viel. Aber für ein Foto möchte die Gebärdensprachdolmetscherin lieber mit entspannt abgelegten Händen abgelichtet werden.

Im Alltag gestikuliert sie viel. Aber für ein Foto möchte die Gebärdensprachdolmetscherin lieber mit entspannt abgelegten Händen abgelichtet werden.

(Foto: Stephan Rumpf)

Kathleen Riegert ist eine von 600 Gebärdensprachdolmetschern in Deutschland. Die 33-Jährige begleitet Gehörlose zu Ämtern oder zum Arzt, übersetzt Vorlesungen, Verbandssitzungen und Parteitage. Ein anstrengender Beruf - für Kopf und Körper

Von Gerhard Fischer

Der Vorsitzende des Kleingartenvereins spricht bairisch. Er redet von "Ratten und Meis". Kathleen Riegert ist in Dresden aufgewachsen. Als die Gebärdensprachdolmetscherin "Meis" hört, denkt sie an das Getreide. Also übersetzt sie für die Gehörlosen im Raum "Ratten und Mais". Es ergibt keinen Sinn. Gut, dass Gebärdensprachdolmetscher fast immer zu zweit arbeiten. Riegerts Partner kann bairisch, er weist sie auf den Fehler hin, sie korrigiert und übersetzt nun "Ratten und Mäuse" statt "Ratten und Mais"; die Gehörlosen lachen.

Riegert, 33, sitzt in einem Bistro an der Tegernseer Landstraße in Giesing. Sie gestikuliert viel, wenn sie Geschichten aus ihrem Alltag erzählt. Sind diese Gesten zufällig Worte? Läge ja nahe bei einer Gebärdensprachdolmetscherin. Sie lächelt. "Nein, ich habe schon immer viel gestikuliert", sagt sie, "aber keine dieser Bewegungen bedeutet jetzt Buch oder Faden oder was auch immer."

An Riegert fällt nicht nur auf, dass sie viel mit den Händen redet, sondern auch, dass sie sofort auf den Punkt kommt; und dass sie dem Gesprächspartner komplizierte Sachen nicht zumuten will. Sie redet zwar von Gesetzen, die wegweisend waren für die Gebärdensprache - ein Sozialgesetz von 2001 oder das Bundesteilhabegesetz. Aber sie weiß, dass man schnell aussteigt, wenn man mit Verordnungen überfrachtet wird. Also sagt sie schnell das Wichtigste: "Seit 2002 ist die deutsche Gebärdensprache offiziell anerkannt - das bedeutet unter anderem, dass Gehörlose das Anrecht auf die Bezahlung eines Dolmetschers haben." Das gilt zum Beispiel für Arztbesuche. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für den Dolmetscher.

Die AOK hat neulich bekannt gegeben, dass AOK-Versicherte 2015 mehr als 2100 mal Gebärdendolmetscher in Anspruch genommen hätten. "Die Beauftragung eines Dolmetschers erfolgt direkt durch den Versicherten", schrieb die AOK. "Eine vorherige Genehmigung ist nicht notwendig, damit die Leistung möglichst schnell und unkompliziert beansprucht werden kann." Es ist nicht bekannt, wie viele Einsätze von Dolmetschern es insgesamt gab - also alle Krankenkassen zusammen genommen. Es gibt keine Statistik dazu.

Kathleen Riegert begleitet gehörlose Patienten zum Arzt. Natürlich hat sie wie der Arzt die Schweigepflicht. "Und ich kläre vorher mit dem Patienten ab, ob ich bei den Untersuchungen dabei bleibe", sagt sie. "Manchmal untersuchen die Ärzte die Patienten auch schweigend und wir setzen uns danach gemeinsam zum Gespräch zusammen."

Manchmal sind die Diagnosen niederschmetternd. Auch das muss sie übersetzen. Riegert erzählt ein Beispiel, bei dem es besonders schwer gewesen sei, aber sie will das nicht in der Zeitung haben. Sie sagt stattdessen allgemein, sie sei bei "mehreren Krebsdiagnosen" dabei gewesen. Sie wirkt, als ob ihr das zwar nahe ginge, sie es aber meistern könne.

Außerdem begleitet sie Gehörlose zu Ämtern, dolmetscht bei Teamsitzungen in Firmen, bei Verbandssitzungen oder Parteitagen. Kathleen Riegert steht stets neben dem Redner, direkt ans Publikum gewandt. An der Uni steht sie neben dem Dozenten, denn sie übersetzt auch für gehörlose Studenten. "Am Anfang gucken dann die Studenten im Hörsaal auch auf mich, aber das legt sich nach ein oder zwei Vorlesungen", erzählt Riegert.

Es sind fast immer zwei Dolmetscher im Einsatz, weil es anstrengend ist und man Pausen braucht. Die Arbeit ist nicht nur für den Geist beschwerlich, sondern auch für den Körper - man bewegt ja ständig die Arme und die Hände. "Sehnenscheidenentzündung ist in den USA eine anerkannte Berufskrankheit für Gebärdensprachdolmetscher", sagt Riegert.

Kathleen Riegert hält die rechte Hand nach vorne. Unbewusst vermutlich. Es ging ja gerade um Sehnenscheidenentzündungen. Aber sonst hat diese Geste nichts zu sagen. Wie würde es denn in Gebärdensprache aussehen, wenn man, zum Beispiel, jemandem ein Buch gibt?

Riegert führt die Hände an den Gelenken zusammen und klappt sie auseinander: ein Buch. Dann machen ihre Hände eine Bewegung in Richtung Gesprächspartner: Hier hast du es. Eine einfache Übung. "Jedes Wort hat eine eigene Gebärde", sagt Riegert, "allerdings übersetzen wir nicht eins zu eins, das tut man ja bei Fremdsprachen auch nicht - man dolmetscht Inhalte." Außerdem gebe es keine Artikel, es werde nicht dekliniert oder konjugiert.

Die zierliche Frau wirkt sicher in allem, was sie sagt und demonstriert. Das schafft Vertrauen. Vermutlich fühlen sich Gehörlose bei ihr gut aufgehoben.

Ist es schwierig, Gebärdensprache zu erlernen? Riegert lächelt. Das wird sie natürlich oft gefragt. "Es ist genauso wie bei anderen Fremdsprachen auch, bei uns sieht es nur spektakulärer aus, weil man uns sieht." Wann und wie ist die Sprache entstanden? Kathleen Riegert breitet die Arme aus und lässt den Kopf in die Schultern fallen. "Wie sind Fremdsprachen entstanden?", fragt sie zurück. "Durch Entwicklung." Gebärdensprachen seien keine Kunstsprachen, die irgendwann irgendjemand erfunden habe. Gebärdensprache gebe es, seit es Gehörlose gebe. Früher gab es kein Studium dafür. "Es gab nur wenige professionelle Übersetzer", sagt Riegert, "meistens waren es die Kinder von Gehörlosen, die das Dolmetschen übernahmen."

Kathleen Riegert wuchs in Dresden auf. Keiner in ihrer Familie ist gehörlos. Sie war in ihrer Jugend auch keinem Gehörlosen begegnet. Trotzdem studierte sie am "Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser" in Hamburg. Das Studium habe sie "einfach interessiert", sagt Riegert.

Der Latte Macchiato kommt an den Tisch. Kathleen Riegert nutzt die Gesprächspause, um auf ihr Smartphone zu schauen. Als sie es wieder wegsteckt, sagt sie: "Smartphones und iPhones sind ein Segen für Gehörlose." Sie schaut ihren Gesprächspartner an, der nicht sofort versteht. "Na, sie können sich sehen und miteinander sprechen - zum Beispiel mit Skype und anderen Programmen."

Gebärdensprachdolmetscher konnte man lange Zeit nur in Hamburg, Berlin, Magdeburg und Zwickau studieren. Das ist ostlastig. Warum? Riegert lächelt. "Da war vielleicht Geld da", sagt sie, "durch die Konjunkturprogramme beim Aufbau Ost." Seit dem Wintersemester kann man nun auch in Bayern Gebärdensprachdolmetschen an der Fachhochschule lernen, in Landshut. "Der bayerische Berufsfachverband der Gebärdensprachdolmetscher hat mit den Gehörlosenverbänden dafür gekämpft", sagt Riegert. "Es gibt dort nun auch eine gehörlose Professorin."

Kathleen Riegert war nach ihrem Studium beim Gehörlosenverband München und Umland angestellt, mittlerweile arbeitet sie selbständig, wie fast alle 600 Gebärdensprachdolmetscher in Deutschland. Riegert übersetzt auch für Gehörlose mit Handicaps - für jene also, die sehbehindert oder blind sind; die eine geistige Einschränkung oder psychische Probleme haben; die, so Riegert, oft nicht mal wissen würden, dass sie das Anrecht auf einen Übersetzer haben. "Ich mache das nicht, weil ich ein Helfersyndrom hätte - es ist eher eine Herausforderung für mich", sagt sie. "Mich hat das immer interessiert."

Ein paar Mal hat sie auch mit gehörlosen Flüchtlingen zu tun gehabt - und dabei feststellen müssen, dass viele die Gebärdensprache ihrer Heimatländer nicht beherrschen. "Da wird es natürlich schwer", sagt sie, "aber trotzdem habe ich eher einen Zugang zu ihnen als ein Nicht-Dolmetscher."

Kathleen Riegert hat an diesem Nachmittag frei, sie holt den eineinhalbjährigen Sohn von der Krippe ab. Bestimmt hat er seiner Mutter viel zu erzählen. Sie wird ihn verstehen.

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