Gewalt gegen Beamte:Wenn ein Polizist vom Freistaat im Stich gelassen wird

  • Bei einem Einsatz im Jahr 1988 bricht sich der Polizist Franz Jürgens mehrere Knochen im Gesicht. Die Spätfolgen bekommt er erst Jahre danach zu spüren.
  • Beamte haben in Bayern Anspruch auf Unfallfürsorge, doch maximal bis zehn Jahre nach dem Unfall - zu spät für Jürgens. Vor Gericht ist er vorerst unterlegen.
  • Nun hofft er auf die Berufungsverhandlung.

Von Thomas Schmidt

Franz Jürgens hielt für andere den Kopf hin. Nicht bloß sprichwörtlich, sondern wirklich. Und schmerzhaft. An den Folgen leidet der inzwischen pensionierte Polizist bis heute. Vor nunmehr 29 Jahren wurde der damals 32-jährige Oberkommissar im Dienst schwer verletzt. Bis zum heutigen Tag kämpft er dafür, dass die quälenden Langzeitfolgen vom Freistaat anerkannt werden. Er kämpft um seine Pension. Und ums Prinzip.

"Die Politik prangert immer wieder Gewalt gegen Polizisten an", schimpft Jürgens, weißer Schnurrbart, Händedruck wie eine Handschelle. "Aber Kollegen wie ich werden einfach im Stich gelassen." Sein Problem: Wie sehr er eines Tages leiden würde, stellte sich erst viele Jahre nach der verhängnisvollen Nacht im März 1988 heraus. Wer zu spät kommt, den bestrafen die Gerichte. Damit steht Jürgens nicht allein da.

42 Jahre war er Polizist. Man hat auf ihn geschossen, neben ihm explodierte ein Auto, einmal duckte er sich in letzter Sekunde unter einem Lkw-Auflieger weg, der ihn sonst den Hals gekostet hätte. Er überlebte knapp 30 Jahre Schichtdienst. "Wenn andere gefeiert haben, habe ich gearbeitet. Ich kann mich in dieser Zeit an kein Silvester erinnern, an dem ich zuhause war." Weil er Dutzende Verbrecher gestellt hat - Jürgens nennt sie "Kunden" -, will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Keiner soll auf die Idee kommen, alte Rechnungen mit ihm zu begleichen.

Einen seiner "Kunden" stellte Jürgens in einer Märznacht 1988, zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Ein Taxifahrer hatte die Polizei gerufen, weil ihm ein Räuber die Geldbörse aus den Händen gerissen hatte und fortgelaufen war. Als die Streife eintrifft, will das Opfer den Beamten den Tatort zeigen - und entdeckt den Räuber auf dem Gehweg. Jürgens wirbelt aus dem Wagen. Der Täter rennt los, hechtet über ein Holzgatter, klettert über einen Stacheldrahtzaun, Jürgens hinterher. Er wird ihn kriegen. Und dafür ein Leben lang bezahlen.

Der Räuber sprintet auf das Gelände einer Spedition und versteckt sich in der Dunkelheit unter einem Lastwagen. Kurz verliert Jürgens ihn aus den Augen, dann entdeckt er ihn, zerrt den Mann an dessen Haaren hervor. Der droht: "Ich stech' dich ab!" Dann schlägt er zu, einmal links, einmal rechts. Mit der Wucht eines Boxers. Die Jochbögen in Jürgens Gesicht brechen auf jeder Seite an drei Stellen. "Der hatte einen Schlag wie ein Elefant", erinnert er sich. Der Räuber wendet sich ab, rennt. Jürgens, unter höllischen Schmerzen, feuert einen Warnschuss ab. Erschrocken dreht sich der Räuber kurz um, knallt mit dem Kopf gegen eine Laderampe und sackt zu Boden. Jürgens legt ihm Handfesseln an.

Der Räuber landet in einer Zelle, Jürgens in einem Operationssaal. Sein Gesicht ist deformiert, die Wangenknochen sind nach innen gepresst, die Nerven gequetscht. Seine Backen sehen aus wie nach innen gebogene Esslöffel. Sein Chef meint, er solle sich nicht so anstellen, sagt, er könne froh sein, dass er nicht in Dorfen war. Kurz zuvor hatte ein Geisteskranker dort drei Polizisten erschossen. Die Botschaft des Chefs: Sei bloß kein Weichei.

Jürgens Jochbeine werden gerichtet. Im Dienst unterdrückt er die Schmerzen, hält den Mund und macht weiter. Die Knochen heilen, die Schmerzen verschwinden, Jürgens ist noch jung, voller Kraft. Doch schon damals prophezeit ihm sein Chirurg, er werde im Alter Probleme bekommen. "Und so war es dann auch", sagt der heute 61-Jährige. Es dauert fast zwei Jahrzehnte, dann kommen die Schmerzen zurück, gnadenlos, als müssten sie verlorene Zeit aufholen. Gegen Ende seiner Dienstzeit gilt Jürgens zu 60 Prozent als schwerbehindert. "Aber ich hab' es keinem gesagt." Polizistenstolz.

Heute kämpft der 61-Jährige nicht mehr gegen Kriminelle, er kämpft gegen den Freistaat, fordert die Anerkennung der Spätfolgen des Angriffs. Drei medizinische Gutachten belegen: Der Ex-Polizist leidet unter chronischen Kopfschmerzen, Schlafstörungen und einer seltenen Form von Nervenschmerzen, Trigeminusneuralgie genannt. Fachaufsätzen zufolge löst dieses Leiden blitzartige, stechende Schmerzen aus, sie sollen zum Schlimmsten zählen, was ein Mensch überhaupt empfinden kann. Das Max-Planck-Institut bestätigt Jürgens, dass seine Krankheit eine Folge des Dienstunfalls im März 1988 ist.

Die Spätfolgen treten spät auf - zu spät

Damals, nach der Attacke, sprach ihm ein Gericht 10 000 Mark Schmerzensgeld zu, "aber davon habe ich nie einen Pfennig gesehen", sagt Jürgens. Es gab einfach nichts zu holen bei dem Räuber. Heute liegt Jürgens mit dem Freistaat im juristischen Clinch, weil er fordert, dass sein ehemaliger Arbeitgeber die Spätfolgen anerkennt, wodurch ihm höhere Pensionsansprüche zustünden. Vordergründig geht es Jürgens ums Geld, viel wichtiger aber, betont er, sei ihm etwas anderes.

Juristisch ist es, vereinfacht ausgedrückt, so: Wird ein Beamter durch einen Dienstunfall verletzt, hat er Anspruch auf Leistungen der Unfallfürsorge. In Ausnahmefällen erlaubt das Beamtenrecht, auch noch zehn Jahre nach dem Unfall Spätfolgen geltend zu machen - danach ist Schluss. Doch bei Jürgens dauerte es fast doppelt so lange, bis er die Konsequenzen wirklich zu spüren bekam. Zu lange.

Jürgens ärgert das maßlos. Er zog vor das bayerische Verwaltungsgericht. Sein Argument: Die Frist dürfe erst beginnen, wenn die medizinischen Folgen spürbar seien. Schließlich könne niemand etwas geltend machen, was noch gar nicht wahrnehmbar sei. "Der Freistaat versteckt sich hinter Paragrafen, anstatt den verletzten Polizisten zu helfen", schimpft Jürgens.

Bei seinem Kampf wird er unterstützt von der Deutschen Polizeigewerkschaft DPolG. "Seit Jahren verzeichnen wir einen Anstieg der Gewalt gegen Polizeibeamte", beklagt Münchens Bezirksvorsitzender Jürgen Ascherl. Aber bei der Versorgung der Opfer "eiert man umeinander". Laut Ascherl gebe es immer wieder Kollegen, bei denen die Spätfolgen sozusagen zu spät auftreten - mit erheblichen finanziellen Nachteilen für die Betroffenen. "Wenn ein Polizist seinen Kopf für den Staat hinhält, dann ist der Staat auch verpflichtet, ihn anständig zu versorgen", fordert der Gewerkschafter. Der Freistaat sei juristisch in der Lage, das zu regeln, "er macht es aber nicht, weil er die Kosten scheut". Die Zehn-Jahres-Frist gehöre abgeschafft.

Genau das will Franz Jürgens erreichen. In erster Instanz wurde seine Klage bereits abgeschmettert. Der Gericht bezweifelte nicht den Zusammenhang zwischen Dienstunfall und Krankheit, verwies aber auf die abgelaufene Frist. Trotz der Niederlage will Jürgens nicht aufgeben. Er hat Berufung eingelegt, hofft, doch noch einen Präzedenzfall schaffen zu können. Über die Zulassung der Berufung ist bis heute nicht entschieden.

"Im Alter", sagt Jürgens, "kommt alles raus." Seine Kunden von damals. Die Spätfolgen von heute. Und sein Kampfgeist für die Zukunft.

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