Vortrag:Wie taubblinde Menschen auf Entdeckungsreise gehen

Kulinarische Reise für Taubblinde / Hörsehbehinderte mit Votrag über Japan und japanischem Essen Sushi

Was gibt es zu Essen? Durch Tastzeichen auf der Hand wird den taubblinden Teilnehmern erläutert, was sich auf dem Teller vor ihnen befindet.

(Foto: Matthias Ferdinand Doering)

Lormen heißt es, wenn ein Vortrag mit und auf den Händen fühlbar gemacht wird. Sogar eine Reise nach Japan können Taubblinde so erleben.

Von Laura Kaufmann

Es ist ein Tanz der Hände, den die Lormenden aufführen. Ein sachtes Antippen der Fingerspitzen, ein zartes Streicheln der Handinnenfläche. Handfläche auf Handfläche legen, neues Wort. Während die Frau mit den rötlichen Haaren von der Kirschblüte in Japan erzählt, dabei langsam die Fäuste öffnet, übersetzt eine freiwillige Helferin den Vortrag in die Hand einer Frau, die streng genommen weder Zuhörerin noch Zuschauerin ist.

Sie kann weder hören noch sehen. Sie erkennt die Gebärden nicht, die die Frau vor der Gruppe macht, und sie hört nicht, was die Dolmetscherin in Lautsprache übersetzt. Das Lormen, das Berühren bestimmter Stellen ihrer Handfläche, ist die Sprache, die ihr geblieben ist. Sie fühlt den Vortrag.

Es dauert also alles etwas länger bei dieser kulinarischen Reise. Nach Japan geht es, und die Teilnehmenden freuen sich seit Langem darauf. Für sie gibt es nicht besonders viele solche Angebote. "Nirgends ist man eingerichtet auf Menschen, die weder hören noch sehen können", sagt Claudia Maciol von der Informations- und Servicestelle für Menschen mit Hörbehinderung. Nicht in Krankenhäusern, nicht in Altenheimen. Nirgends. Freizeitangebote sind rar. Taubblinde und hörsehbehinderte Menschen sind auf die Hilfe anderer angewiesen, auf besondere Unterstützung. Aber es mangelt an Helfern, ehrenamtlichen wie ausgebildeten. Und an Geld.

"Wir schauen hin, wir lassen sie nicht alleine", sagt Maciol. Sie sowieso nicht, die zuständig ist für die Beratung dieser Menschen, denen gleich zwei elementare Sinne fehlen. Um die 280 Menschen sind es in Bayern, die Anspruch auf Taubblindengeld haben. Den aber haben nicht einmal alle der Anwesenden, obwohl beide Sinne so weit verkümmert sind, dass sie sich nicht ausgleichen können.

Claudia Maciol organisiert die kulinarische Reise. Es ist die neunte ihrer Art. Der erste Teil der Reise besteht aus Vorträgen, die die Teilnehmer selbst vorbereitet haben und vortragen. Es tue ihnen gut, selbst mitzugestalten, wo sie sonst oft auf andere angewiesen sind, sagt Maciol. Danach gibt es eine Ausstellung zum Land, dann ein gemeinsames Essen. Bei der ersten Reise hat Maciol noch selbst gekocht, für Japan konnte sie ein kleines Restaurant am Hauptbahnhof gewinnen, das gegen einen Unkostenbeitrag ein Menü liefert.

Eine beeindruckende Reise nach Japan

Gelormte Übersetzungen. Gebärden, die abgetastet werden, weil die Sicht für die Gebärden zu schlecht ist. Sehhilfen, die auf den Menschen, der vorne spricht, gerichtet werden. Nicht alle hier sind vollkommen blind und taub. Einige haben zum Beispiel eine Form des Usher-Syndroms, sind von Geburt oder frühester Kindheit an taub, ihr Sichtfeld engt sich mit den Jahren immer weiter ein. Es ähnelt irgendwann einem Tunnel mit stecknadelgroßer Öffnung, verdunkelt sich manchmal ganz.

So ist es bei Alexander Nagulin. Er hat noch ein Restsehvermögen, solange es nicht Nacht ist oder regengrau. Bevor sich seine Welt vielleicht für immer verdunkelt, wollte er nach Japan reisen. Land seiner Sehnsucht, seit er als Jugendlicher einen Mangacomic zu fassen bekam. Vor seinem 30. Geburtstag wollte er hin. Und das hat er gerade noch geschafft, dieses Frühjahr.

Nagulin hat Bilder von seiner Reise herausgesucht, eine Power-Point-Präsentation vorbereitet, die der Beamer jetzt an die Wand wirft. Es ist ein Kursraum in der Isarvorstadt, von dem aus die Gruppe gedanklich nach Japan reist. Helles Neonlicht, ein Mikrofon, das die Sätze direkt in die Hörgeräte derer, die noch einen Rest hören, transportiert. Jeder in dieser kleinen Reisegruppe hat anders ausgeprägte Beeinträchtigungen, manche können sich untereinander nicht verständigen. Trotzdem überschwängliche Begrüßungen und strahlende Gesichter zu Beginn, man kennt sich, man ist gemeinsam auf Kamelen geritten und einen Walderlebnispfad gelaufen. Es sind Veranstaltungen, auf denen sie einer von vielen sind. Nicht der eine Störfaktor, der eine, der nichts mitbekommt.

Man muss um alles kämpfen - nicht nur um das Geld

Wenige enge Freunde sind ihm geblieben, gestikuliert Alexander Nagulin, es wird eben immer schwieriger, immer komplizierter, je weniger er sieht. Nagulin, imposante Erscheinung, groß gewachsen und breite Schultern, steht jetzt vor seinen Bildern, die über die Wand flimmern. Er ist gut im Erzählen. Das ist spürbar, auch ohne seine Gebärden lesen zu können. Er ist der Jüngste heute. Und der, der aus erster Hand aus dem Land berichten kann, um das sich alles dreht. Er grüßt mit einer kleinen Verbeugung. "Japan war ein großer Traum von mir, und jetzt hat es geklappt. Ich musste lange dafür kämpfen."

Kulinarische Reise für Taubblinde / Hörsehbehinderte mit Votrag über Japan und japanischem Essen Sushi

Alexander Nagulin berichtet von seiner Japanreise.

(Foto: Matthias Doering)

Kämpfen musste er, weil er Hilfe braucht, um zu reisen. Mit der Mutter ist er schließlich geflogen. Alleine wäre es mit der Sehbehinderung zu gefährlich. Und weil Japan teuer ist, seine Behinderung auch so schon viel Geld frisst. Taubblinde werden in Bayern mit monatlich 1158 Euro unterstützt, dem verdoppelten Blindengeld. Sieben Mal hat er es bisher beantragt. Nie bekommen. Es sind Promillewerte, die ihm die Unterstützung versagen.

Einmal, als es gereicht hätte, hat er den Test in Berlin gemacht. Bayern hat ihn nicht anerkannt. "Es schlägt auf die Psyche, immer kämpfen zu müssen", sagt er. Auch wenn er sich davon nichts anmerken lässt. Jedes Taxi, das er sich abends, wenn er draußen nichts mehr sieht, bestellt, wird ihm nur eventuell bezahlt. 20 Kilometer entfernt von München wohnt er, eine Stadtwohnung ist zu teuer. Und um etwas zu unternehmen, braucht der große Mann Begleitung. Er wohnt alleine, dort draußen.

Er zeigt Sumoringer und Geishas für die, die sehen können, zeigt Tempel und Schreine, Ramensuppe in Kyoto. Reicht eine Art kleines Handtuch herum, zu benutzen beim Bad im Onsen, einer heißen Quelle. Ganz dünn, das Tuch. Ein Futon, "die Japaner sagen, das ist besser für den Rücken, aber...", verzieht das Gesicht, wiegelt mit der Hand ab, die Reisegruppe lacht, nach und nach, bis es allen übersetzt wurde. Zeigt einen Schnellzug, Tokio, Mahnmale in Nagasaki und Hiroshima. Ein Bild von ihm selbst, vor einem reich gedeckten Tisch. Die Hände gehen in die Höhe, als Alexander Nagulin fertig vorgetragen hat, die Hände wedeln, stummer Applaus. Fragen werden übersetzt, es dauert länger als geplant, wie immer.

Unten im Speisesaal, im Gewölbekeller, wird schon das Essen angerichtet. Und es wartet noch die Ausstellung, geliehen aus Geschäften und von Bekannten, liebevoll auf Tischen drapiert. Ein Kimono, der reihum anprobiert wird. Ein japanischer Gong, an der Garderobe aufgehängt, dessen Schwingungen auch Taube spüren können, zwei Frauen halten ihren Kopf nah hin, jede an eine Seite, kichern. Irgendwann ist es genug, Zeit für den geselligen Teil. Matcha-Latte, Sushi, frittiertes Hähnchen mit Reis und Teriyakisoße. Lautes Lachen und stummes Lachen, ein irritiertes Rühren im grünschlammigen Tee und eine vierte Portion California Rolls.

Angst vor dem völligen Erblinden

Nagulins Hobby ist das Comiczeichnen. Mangas. Seit er ein Teenager ist. Das geht noch, genauso wie er noch arbeiten kann als technischer Zeichner, mit speziellem Bildschirm und Vergrößerungshilfen. Noch. "Natürlich habe ich Angst davor, zu erblinden. Aber das hilft ja nichts." Die dunklen Momente gibt es, aber er bleibt positiv. "Vielleicht muss ich dann auf plastische Kunst ausweichen, modellieren." Es zuckt kurz in seinem Gesicht. Jetzt ist nicht der Moment darüber nachzudenken, hier in dieser Runde, nach dem gelungenen Vortrag und den Speisen aus seinem Lieblingsland, wozu.

Es ist längst dunkel, als sich die Runde nach und nach auflöst. Nagulin geht mit einer Freundin zur U-Bahn, seine Hand auf ihrer Schulter. Neben Nachtblindheit sind auch Gleichgewichtsstörungen typisch für Usher. Es ist Nagulin nicht anzusehen, dass er kaum sieht. Dass der Weg vor ihm gerade nicht dunkel, sondern undurchdringlich schwarz ist. Aber irgendwo in dieser Schwärze sind für immer gespeichert: die Bilder von dicken Ringern, einer weißen Schneekuppe. Und von einem Meer aus zarten Kirschblüten.

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