Programm 2015:Was das Literaturfest München verspricht

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Flucht, Gewalt, Migration, Krisen- und Kriegsgebiete: Das Literaturfest München weist ein ausgesprochen politisches Programm auf. Ein Überblick.

Von Christopher Schmidt

Der Autor sei ein Bürger mit einem Megafon, hatte der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie bei der Eröffnung der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gesagt. Nur nütze ihm das Megafon wenig, so Rushdie, wenn seine Redefreiheit unterdrückt werde - durch religiöse Zensur wie in Teilen der arabischen oder durch Denkverbote wie in Teilen der westlichen Welt. Wie viel schlechter aber steht es um jene, die gar nicht erst über das Medium Buch verfügen können, um ihre Stimme zu verstärken, denen die Öffentlichkeit kein symbolisches Asyl gewährt. Sie müssen vielmehr feststellen, dass der Pass das einzige Stück Literatur ist, das zählt, "der edelste Teil von einem Menschen", wie es schon in Bertolt Brechts "Flüchtlingsgesprächen" heißt.

"We become visible" - "Wir werden sichtbar" hatten daher im vergangenen Jahr die Flüchtlinge am Berliner Oranienplatz auf ein Schild aus Pappe geschrieben und sich ebenfalls des Mittels der Schrift bedient, um auf ihre Not aufmerksam zu machen. Von ihnen erzählt Jenny Erpenbeck in ihrem aktuellen Roman "Gehen, ging, gegangen", der angesichts der derzeitigen Flüchtlingskrise geradezu das Buch der Stunde ist.

Autoren aus Kriegsgebieten, Menschen mit Migrations- und Gewalterfahrungen

Im Internet stößt Erpenbecks Protagonist, ein emeritierter Professor für Altphilologie, auf das Wort "Fiktionsbescheinigung". Gemeint ist allerdings nicht, wie er zunächst vermutet, ein Begriff aus der Belletristik, sondern eine Bezeichnung dafür, "dass ein Mensch, der noch nicht das Recht besaß, sich ,Flüchtling' zu nennen, vorhanden war". "Fiktionsbescheinigung", das ist ein zynischer Euphemismus der Verwaltungssprache für Zuwanderer mit noch ungeklärtem Aufenthaltsstatus. Und doch schlägt das Wort einen Bogen zur Literatur und zum Münchner Literaturfest, das sich vor allem in seinem Herzstück, der von dem Münchner Schriftsteller Albert Ostermaier kuratierten Reihe Forum:Autoren dezidiert politisch versteht und ebenso wach wie engagiert auf die aktuelle Lage reagiert.

Autoren und Künstler aus Krisen- und Kriegsgebieten, Menschen mit Migrations- und Gewalterfahrungen hat Ostermaier unter dem Titel Front:Text (eine Anspielung und zugleich ein Seitenhieb auf die Frontex-Grenzwächter der Festung Europa) eingeladen, um mit Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen, ihren Geschichten einen Resonanzraum zu geben. Dass er seinem Programm unter anderem mit einem dreiteiligen Symposium zur Weltlage einen betont dialogischen und diskursiven Charakter verleiht, kann man daher nur begrüßen.

Es braucht mehr als ein paar Stiefel, um die Heimat zu verlassen und in einem fernen Land Schutz zu suchen. (Foto: Attila Kisbenedek/AFP)

Mitten im Zentrum der brennenden Fragen

Neben dem wohl wichtigsten lebenden Dichter der arabischen Welt, dem Syrer Adonis, wird der eingangs erwähnte Salman Rushdie das Festival eröffnen. Und auch Jenny Erpenbeck kommt nach München. Sie spricht mit der in Kalkutta geborenen und in Paris lebenden Shumona Sinha, die über ihre Erfahrungen als Dolmetscherin bei der französischen Migrationsbehörde den provozierenden Schlüsselroman "Erschlagt die Armen!" geschrieben hat. Denn auch Sinha weiß um die existenzielle Dimension, die das Wort "Fiktion" gewinnt, wenn es darum geht, die Schrecken der eigenen Biografie durch das Nadelöhr der Einwanderungskriterien zu fädeln.

"Wäre John Updike Afrikaner gewesen, hätte er vor zwanzig Jahren den Nobelpreis gewonnen", schreibt der aus Nigeria stammende Autor Teju Cole in seinem jüngsten Buch "Jeder Tag gehört dem Dieb" über sein Land. Dort, wo angesichts von Krieg, alltäglicher Gewalt und des Vormarschs der Islamisten die Geschichten auf der Straße liegen, wachse ihnen eine Dringlichkeit zu, der gegenüber sich der Großteil der westlichen Literatur so karg ausnehme wie ein "unfruchtbarer Stadtrandacker". Das Münchner Literaturfest aber stellt sich mitten ins Zentrum der brennenden Fragen. Denn das Erzählen war schon immer eine Möglichkeit, Luftwurzeln zu treiben, wenn die Zeitläufte den festen Boden in Flugsand verwandelt haben.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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