Zeitzeugen-Serie, Folge 2:"Wir haben uns nicht näher dran getraut"

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Hans Steinbigler war elf Jahre alt, als der Zug mit den jüdischen Zwangsarbeitern in Poing halten muss - und zum Schauplatz eines Massakers wird. (Foto: Christian Endt)

Als Elfjähriger hat Hans Steinbigler den Todeszug und die ausgemergelten KZ-Häftlinge in Poing stehen sehen. Dreizehn Jahre später trifft er zufällig einen Überlebenden.

Von Bastian Hosan, Poing

Es ist Ende 1958. Der Poinger Hans Steinbigler hat gerade sein Studium an der Technischen Hochschule München beendet und arbeitet in Mannheim bei der Firma Brown Boveri. An den Wochenenden fährt er nach Hause, seine Mutter ist krank. Weil Züge teuer sind, bucht er eine Fahrt bei einer Mitfahrzentrale. "Der Fahrer fragte mich, wo ich herkomme", sagt Steinbigler. Als er "Poing" sagt, schweigt der Mann. Dann stellt er sich vor: Es ist Max Mannheimer, Überlebender des Todeszuges.

13 Jahre früher, 26. April 1945, kurz vor Ende des Krieges. Hans Steinbigler ist elf Jahre alt. Ein Zug steht im Bahnhof Poing. Niemand weiß, woher er kommt, noch wohin er fährt. Wächter stehen an Reisigfeuern und versuchen, sich die kalten Glieder zu wärmen. Im Zug sind Menschen, eingepfercht in Güterwaggons. Viele von ihnen sind krank, einige todkrank, andere kurz vor dem Verhungern. Sie tragen Häftlingskleidung. "Ich war mit meinem Vater dort am Bahnhof", sagt Steinbigler. "Wir haben uns aber nicht näher dran getraut."

Damals, vier Tage, bevor die Amerikaner Poing befreien sollten, weht immer wieder der Kanonendonner der Front über den Ort. Landshut, so das Gerücht, ist bereits eingenommen worden. Auch die Wachmänner am Zug wissen das. "Die sind, wie man so sagt, stiften gegangen", sagt Steinbigler. Als die Mannschaft türmt, flohen auch die Gefangenen.

Zu früh, denn am nächsten Tag treiben Soldaten und SS-Männer die Häftlinge mit Waffengewalt zurück zum Zug. Mindestens 50 Gefangene sterben dabei, über die genaue Zahl wird heute noch gemutmaßt. Im Gras neben dem Zug liegt ein Mann Anfang 20. Er ist an Flecktyphus erkrankt, kann sich kaum auf den Beinen halten. "Ich war damals körperlich stark reduziert", wird er später in einem Brief schreiben. Es ist Max Mannheimer. Jener Mann, der Hans Steinbigler 13 Jahre später im Auto mitnimmt.

Heute ist Steinbigler 81 Jahre alt. Er wohnt noch immer in Poing, in dem Haus, in dem früher seine Großeltern lebten. Das Wohnzimmer ist ordentlich. Bücher stehen aufgereiht im Regal, daneben Porzellanfiguren. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Blätter. Er hat seine Erinnerungen aufgeschrieben. Die Tage kurz vor Ende des Krieges haben ihn geprägt, erklärt er.

Der "Poinger Todeszug" hat ihn nie mehr losgelassen. Nicht, als er später im Gemeinderat saß, nicht danach. Das Nazi-Regime habe ihn auch politisch beeinflusst. "Nach dem Krieg war ich erst Kommunist, dann überzeugter Sozialdemokrat", sagt er. Später war er Freier Wähler. Steinbigler erzählt seine Geschichte. Ihr Kern ist das Ende des Krieges. Er ist ein Mann, der sich die Skepsis dieser Zeit nicht abgewöhnt hat.

"Ich habe nicht wirklich gelitten im Krieg", berichtet er rückblickend. Als es wirklich gefährlich wird, hatten er und seine Familie das Glück, Verwandtschaft außerhalb von München zu haben - seine Großeltern leben in Poing und holen ihn und seine Eltern zu sich. "In München habe ich im Ostbahnhofsviertel gewohnt."

Nachdem in der Nähe des Hauses eine Phosphorbombe niedergeht, verlässt die Familie die Stadt. Steinbiglers Vater war damals UK gestellt. UK, das bedeutet "unabkömmlich". Er musste nicht an der Front, sondern konnte weiter in der Stadtverwaltung in München arbeiten. Nach dem Krieg, erinnert sich Steinbigler, habe eine Art tiefes Schweigen über Poing gelegen. Niemand wusste, was es mit dem Zug auf sich hatte.

Mannheimer erzählt Steinbigler später, dass der Zug aus Mettenheim bei Mühldorf kam. Ungarische Juden hatten dort in einem Außenlager des KZ Dachau als Zwangsarbeiter gearbeitet. Als die Front näher kam, wurden sie fort gebracht. Das wahrscheinliche Ziel: Tirol. "Sie sollten dort bombensichere Fabriken für Hitlers neueste Waffe, den Düsenstrahlflieger Messerschmidt 262, bauen", sagt Steinbigler.

In Poing hatte die Lokomotive einen Schaden und blieb liegen. Nach der Reparatur fuhr der Zug weiter. Erst nach München, dann, auf der Isartalbahn, sei er getrennt worden. Einen Teil bestückte die Wehrmacht mit einer Flak und ließ ihn in Richtung Seeshaupt fahren. Wegen der Flak hielten die Amerikaner ihn für einen Truppentransport und beschossen ihn. Viele Gefangene starben. Der andere Teil fuhr Richtung Tutzing - und wurde von den Amerikanern befreit. Mannheimer war einer der nun Befreiten.

Währenddessen, am 1. Mai, geht der Krieg in Poing zu Ende. Es ist kalt, "es schneite sogar leicht", schreibt Steinbigler in seinen Erinnerungen. Er hat den Text nie veröffentlicht. Gegen elf Uhr schiebt sich ein Armee-Fahrzeug um die Ecke des alten Schulhauses. Auf dem Panzerblech prangt der fünfzackige Stern der U.S. Army. Andere Wagen folgen, teilweise bestückt mit Maschinengewehren. Als es ruhig bleibt, gehen die Menschen auf die Straße. Immer mehr amerikanische Fahrzeuge rollen in Richtung Poing. "Das war eine Demonstration amerikanischer Übermacht", sagt Steinbigler. Auf der Neufahrner Straße kommt es zu einem letzten Schusswechsel. Dann endet der Krieg in Poing und der Umgebung.

Es folgen Euphorie - und Ernüchterung. "Ein paar Soldaten kamen zu unserem Haus", sagt Steinbigler. Es folgt ein kurzer Wortwechsel. Steinbigler spricht Englisch, ihm wird klar: Die Amerikaner haben ihr Haus als Hauptquartier auserkoren. Die Familie kommt bei Nachbarn unter. Das Haus wird danach kaum wieder zu erkennen sein. Jeder Winkel wird nach Wertsachen durchsucht, die spärlichen Alkoholvorräte geplündert. "Ich habe mit meinem Großvater die Exkremente der Soldaten beseitigt", sagt Steinbigler, alle Zimmer seien voll davon gewesen.

Sonst sei der Kontakt mit den Soldaten gut gewesen. "Sofern sie nicht betrunken waren." Ein GI sei zu den Nachbarn gegangen. Die Maschinenpistole im Ansatz, verlangte er Einlass. "Ich ahnte nicht, welche Angst die Frauen hatten, und redete drauf los." Die Nachbarin brät Eier und Kartoffeln. Der Soldat isst, schläft seinen Rausch aus und geht am nächsten Tag. "Wahrscheinlich wollte er nur eine deutsche Familie kennenlernen", sagt Steinbigler.

Nach dem Krieg geht Hans Steinbigler wieder zur Schule, studiert im Anschluss. Für ihn war der 1. Mai 1945 eine Befreiung. Und doch habe die Propaganda der Nazis ihre Spuren bei ihm hinterlassen. "Ich habe viel Radio gehört, war zuständig dafür zu hören, von wo die Bomber der Alliierten einflogen." Zwischen diesen Meldungen lief die Propaganda. Steinbigler hat, auch deshalb, seine eigene Entnazifizierung betrieben. Von einer Kommode nimmt er ein Buch, "Erdkunde - erster Teil Deutschland" heißt es. "Ich habe alles rausgestrichen, was mit den Nazis zu tun hat." Von der ersten bis zur letzten Seite.

Es hat lange gedauert, das Schweigen in Poing zu brechen. Das zufällige Treffen zwischen Mannheimer und Steinbigler hat wesentlich dazu beigetragen. 1985 kam der Holocaust-Überlebende nach Poing und erzählte seine Geschichte. Damit begann die Aufarbeitung der Nazi-Gräueltaten. Im Ort steht inzwischen ein Mahnmal. Es erinnert an die Verbrechen gegenüber den Häftlingen im Zug. Poing gedenkt, jedes Jahr.

© SZ vom 08.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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