Vaterstetten:Zwischen Hilfe und Bevormundung

Arne Manzeschke klärt in Vaterstetten über Technik auf, die den Alltag im Alter einfacher machen kann

Von Michael Haas, Vaterstetten

"Möglichst lange daheim": Wer Menschen fragt, wie sie sich das Leben im Alter wünschen, erhält immer wieder die gleiche Antwort. Selbstbestimmt soll es sein und weitgehend unabhängig, am liebsten bis ans Lebensende. Kein Wunder also, dass Wissenschaft und Industrie in den vergangenen Jahren einiges getan haben, um den Wünschen gerecht zu werden. Am Handgelenk befestigte Knöpfe ermöglichen es, im Notfall unkompliziert Hilfe zu rufen, Roboter unterstützen bei der häuslichen Pflege, Internet und Computer beim Einkauf. Eine elektrische Robbe namens "Paro" hört Demenzkranken zu, reagiert auf Licht und Berührungen und zeigt Gefühle. Und die Entwicklung ist noch längst nicht zu Ende.

"Internet der Dinge" heißt das aktuelle Schlagwort der Digitalisierung, es meint die Vernetzung alltäglicher Gegenstände miteinander. Der Kühlschrank soll wissen, was in ihm gelagert wird und selbstständig Einkaufszettel schreiben, der Ofen sich selbsttätig ausschalten, wenn er vergessen wurde. Für ältere Menschen bedeutet das: Es wird eine umfassende Kontrolle des gesamten Haushalts möglich sein. Für verwirrte Menschen ein Glücksfall. "Das wird dazu beitragen, das Menschen das Gefühl haben: Ja, ich bin zu Hause sicher", sagt Arne Manzeschke bei der Veranstaltungsreihe "Gesellschaft im Blick" des katholischen Kreisbildungswerks. Zu seinem Vortrag sind nur wenige Zuhörer ins Altenpflegeheim Haus Maria-Linden nach Vaterstetten gekommen - obwohl das Thema alle Menschen betrifft. "Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wenn wir noch länger selbstbestimmt leben wollen", sagt der Leiter der Fachstelle für Ethik und Anthropologie im Gesundheitswesen der evangelischen Landeskirche Bayern.

Denn nur schön ist die neue Welt nicht, Pflege ist mehr als bloße Dienstleistung. "Es geht immer auch um Zuwendung, Kommunikation und Mitmenschlichkeit", sagt Manzeschke. Hinzu kommt, dass die kleinen elektronischen Hilfen und ganzen Pflegeroboter zwar das Leben älterer Menschen erleichtern, aber auch ethische Fragen aufwerfen. "Auf der einen Seite ist das alles wohlmeinend, auf der anderen kann es auch eine Form der fürsorglichen Belagerung sein", erklärt Manzeschke.

Im ersten Moment klingen viele Innovationen hilfreich. Etwa der intelligente Spiegel mit eingebautem Display und Kamera, der einem Demenzkranken jederzeit sagen kann, was nun der nächste Schritt beim Zähneputzen ist. Oder Systeme, die am Körper getragen werden, Vitalfunktionen aufzeichnen und weiterleiten. GPS-Sensoren, die verwirrten Menschen größere Bewegungsfreiheit ermöglichen, weil sie jederzeit geortet werden können. Selbst in den Körper implantierte Sensoren gibt es inzwischen. Technisch, erzählt Manzeschke, sei es inzwischen möglich, einen Herzschrittmacher von außen zu steuern. Aber ist das wirklich ein Fortschritt?

Manzeschke hat bei all der neuen Technik ein strukturelles Problem ausgemacht. Damit die Technik bestmöglich auf die entsprechende Person eingehen kann, muss sie möglichst viel von ihr wissen. Die Geräte brauchen Daten. "Der wesentliche Gedanke der vernetzten Welt ist: Wir bewegen uns permanent in einer Umwelt, die uns nützt, aber auch verfolgt und möglicherweise überwacht", sagt Manzeschke. Eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Grenzen dieser vernetzten Welt hält er für zwingend notwendig, denn: "Das ist ein ziemlicher Eingriff in unser privates Leben."

Seit mehreren Jahren leitet er Workshops für Unternehmen, die ihre neuen Assistenzsysteme für Senioren aus ethischer Sicht evaluieren wollen. Ein Denkmodell vereint die Auswirkungen des Produkts auf verschiedene Bereiche wie "Fürsorge", "Gerechtigkeit" und "Teilhabe" mit unterschiedlichen Perspektiven. Verschiedene Gruppen der Workshop-Teilnehmer betrachten dabei die neue Entwicklung aus Sicht einzelner Menschen oder der gesamten Gesellschaft. Der Gedanke dahinter: Was für den Einzelnen gut ist, kann gleichzeitig zu einer ungewollten gesellschaftlichen Entwicklung führen. So gibt es beispielsweise Versicherungen, die ihren Kunden Rabatt gewähren, wenn diese laufend gemessene körperliche Daten an das Unternehmen übermitteln - tragbare Computer wie intelligente Uhren, sogenannte Wearables, machen es möglich. "Aber was passiert, wenn das irgendwann nicht mehr freiwillig ist?", fragt Manzeschke.

Wie viele Daten also sind nötig, um Menschen umfassend zu unterstützen? Und von welchem Zeitpunkt an rechtfertigt der Nutzen das Sammeln der Daten nicht mehr? Solche Fragen müsse die Gesellschaft diskutieren, fordert Manzeschke. "Wir brauchen viel mehr Beratung und Besprechung darüber, was da auf uns zukommt", sagt der Forscher. Die Gesellschaft habe ja ein Interesse daran, altersgerechte Assistenzsysteme zu fördern: "Wenn wir volkswirtschaftlich rechnen, ist ein Heimplatz deutlich teurer, als wenn die Leute daheim wohnen." Diese Rechnung sei aber wohl zu einfach, schränkt er direkt ein. Denn statt einiger Heimplätze wird künftig wohl der Speicherplatz für riesige Datenmengen finanziert werden müssen. "Wir müssen uns also gut überlegen, wie daten-sparsam wir vorgehen wollen", sagt Manzeschke.

Es ist seine zentrale Aussage: Technik ja, aber nicht im Überfluss oder als Selbstzweck. Denn sonst, sagt Manzeschke, könnten gerade die Geräte, die ursprünglich die Selbstbestimmung fördern sollten, für deren Verlust sorgen.

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