Vaterstetten:Hypnotische Schöpfungen

Vaterstetten: "Als Bub habe ich oft im Reitsberger Hof geprobt", erzählt Jazzpianist Chris Gall dem Publikum im Pfarrsaal seines Heimatortes.

"Als Bub habe ich oft im Reitsberger Hof geprobt", erzählt Jazzpianist Chris Gall dem Publikum im Pfarrsaal seines Heimatortes.

(Foto: Christian Endt)

Der Jazzpianist Chris Gall begeistert im voll besetzten Pfarrsaal mit eigenen Stücken sowie Bearbeitungen

Von Rita Baedeker, Vaterstetten

Eines seiner Stücke, "Rose", hat der Vaterstettener Jazzpianist Chris Gall seiner temperamentvollen Englischlehrerin gewidmet, die, wie er erzählt, Grammatik mehr gepredigt als gelehrt habe. In der Fantasie "Children's Daydream" schuf er - der Tradition Schumannscher "Kinderszenen" folgend - eine liedhafte pianistische Impression mit lauter wichtigen Begebenheiten. Und mit der Komposition "A Roundabout's Diary" erzählt er in brausender Klangmalerei und kleinen Tonschritten vom ewigen Kreisen mit oder gegen den Uhrzeigersinn, Regelverstöße und Missverständnisse inbegriffen. Einem Perpetuum mobile oder Uhrwerk gleich bildet die eine Hand des Pianisten fortdauernd gleiche Akkordmotive, während die andere erzählt, variiert, aufbegehrt.

Der Pfarrsaal der katholischen Kirche "Zum Kostbaren Blut Christi" in Vaterstetten ist bei diesem Konzert voll besetzt. Die Veranstalterin, Kirchenmusikerin Beatrice Menz, ist über den Andrang gleichermaßen erfreut wie erstaunt - schließlich ist Gall, 41, diesmal solo zu erleben. Erst vor einiger Zeit konnte man ihn mit der Formation Quadro Nuevo in der evangelischen Petrikirche in Baldham hören. Heute präsentiert der Pianist das Programm seiner vor zwei Jahren erschienenen Solo-CD.

Chris Gall beginnt im Alter von sechs Jahren Klavier zu spielen. "Als Bub habe ich oft im Reitsberger Hof geprobt", erzählt er dem Publikum. Mit 16 entdeckt er den Jazz. Gemeinsam mit anderen Musikern ergattert er ein Stipendium für das renommierte Berklee College of Music in Boston, wo er von Indien bis Brasilien alles an Weltmusik einsaugt, was ihm dort begegnet.

Als er 1999 nach München zurückkehrt, holt Harald Rüschenbaum ihn in seine Bigband. Gall baut zahlreiche musikalische Kontakte auf, engagiert sich als Komponist und Arrangeur, wobei er, wie man in Vaterstetten hören kann, die Spielweise eines klassischen Pianisten weiter pflegt. So hat er etwa Claude Debussys "Little Shepherd" neu arrangiert, um energische Klangfiguren und Motive erweitert, die Originalkomposition bleibt dennoch erkennbar. In der Balance zwischen Improvisation, Reduktion und impressionistischer Klangschöpfung absolut hypnotisch wirken auch seine Version des Walzers aus dem Film "Die fabelhafte Welt der Amelie" und eine Hommage an den britischen Gitarristen Thom Yorke.

Bei der Ankündigung seines "Lieds ohne Melodie" mit dem Titel "empty pale blue paper" fordert Gall das Publikum auf, das noch leere, blassblaue Papier mit eigenen Gedanken und Fantasien zu füllen und anschließend aufzuschreiben. In die nun folgenden farbenreichen Klangbilder und -wolken könnte man fließendes Wasser hineinträumen, vom Rinnsal über den Regenguss bis hin zur donnernden Brandung. Dazwischen pochen Herztöne - ist es die Musik, oder doch der eigene Puls? Die jeweiligen Fantasien der Zuhörer sind nach dem Konzert ein spannendes Gesprächsthema.

Voller Witz und Poesie ist auch, wie der Pianist sich mit Amelies Walzer in das unvermeidliche, nicht enden wollende Acht-Uhr-Läuten der Kirchenglocken harmonisch einfügt. Mit seiner bluesigen Zugabe erinnert Gall dann wieder mehr an einen Jazz-Pianisten - einen Musiker, der Stilgrenzen konsequent ignoriert und mit virtuoser Souveränität und Charme neue Klangwelten eröffnet.

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