Vaterstetten:Fenster ins Gestern

Elfriede Ziegler erzählt die Geschichte von Baldham in den 1930er- und 1940er-Jahren. Wirtschaftliches Herzstück der Ortschaft und Heimat der Autorin war die Brennerei

Von Wieland Bögel, Vaterstetten

Wer Enkelkinder hat oder selber mal eins war, kennt das sicher, die Frage an Oma oder Opa: "Erzähl mal, wie war das bei euch früher?" Eine sehr umfassende Antwort darauf gibt es nun in Buchform. Geschrieben hat es Elfriede Ziegler, die vor 88 Jahren in Baldham geboren wurde, und den Leser an den ersten 20 Jahren ihres Lebens teilhaben lässt.

"Erinnerungen an eine kleine Welt" so lautet der passende Titel des Buches, denn beschrieben wird auf knapp 200 Seite der Mikrokosmos des Dorfes Baldham in den Jahren 1929 bis 1948. Im Zentrum des Dorfes, und der Erzählungen, steht die Brennerei, wirtschaftliches Herzstück der Ortschaft und Heimat der Protagonistin. Denn sie ist die älteste Tochter des Brennmeisters. Zu Papier gebracht hat Elfriede Ziegler ihre Erinnerungen bereits vor einiger Zeit, dass diese nun als Buch erschienen sind, geschah auf Initiative von Vaterstettens Gemeindearchivarin Ulrike Flitner. Beide haben nicht nur den Text in Buchform gebracht, sondern ihn auch durch zahlreiche Fotografien aus dem Privatarchiv der Autorin und dem Gemeindearchiv ergänzt, sowie ein Register der Haus- und Hofnamen und der im Buch vorkommenden Familien.

Für heutige Bewohner Baldhams und Vaterstettens ist das Buch zunächst ein interessantes Fenster in eine nahezu völlig verschwundene Vergangenheit. Kaum einer der Orte - seien es das Dorf Baldham selbst oder seine Umgebung - existieren heute noch in der Form, wie in den Erzählungen beschrieben. Etwa die Brennerei selbst, die vor zwei Jahren abgerissen wurde, an ihrer Stelle steht inzwischen ein Kindergarten. Die große Stärke des Buches - neben seiner Detailtreue - ist das Fehlen jeglicher Form von Sentimentalität. Keine "gute alte Zeit" beschreibt Elfriede Ziegler, sondern eine andere Zeit, mit ihren schönen und lustigen, aber auch mit ihren harten und bösen Seiten.

Lustig zum Zuschauen etwa die regelmäßige Übung der Feuerwehr, die im Wesentlichen darin besteht, in Uniform zum Wirtshaus zu marschieren - wenn man denn eine Uniform hat. Denn ein Bauerndorf in der Zwischenkriegszeit ist keine klassenlose Gesellschaft, im Gegenteil. Wer Bauer ist und wer Knecht, das ist den meisten schon in die Wiege gelegt. Sogar der Brennmeister, einerseits einer der wichtigsten Leute im Dorf, und geschätzt für seinen Sachverstand in vielen Dingen, bleibt doch andererseits für manchen der alteingesessenen Bauern "a Knecht".

Vaterstetten: Nur noch Erinnerung und schmuckes Dekor: Ein Modell der längst abgerissenen Brennerei schmückt als Zunftzeichen den Maibaum in Baldham-Dorf. In dem Buch "Erinnerungen an eine kleine Welt" erwacht der Betrieb zu neuem Leben.

Nur noch Erinnerung und schmuckes Dekor: Ein Modell der längst abgerissenen Brennerei schmückt als Zunftzeichen den Maibaum in Baldham-Dorf. In dem Buch "Erinnerungen an eine kleine Welt" erwacht der Betrieb zu neuem Leben.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Wild geht es gelegentlich schon zu, bei einer Kindheit auf einem Hof - romantisch ist es allerdings nicht. Besonders für die Kinder ist der Alltag mitunter hart. Sie müssen mitarbeiten und werden, wie sich die Autorin noch heute erinnert, alles andere als respektvoll behandelt. Von Angehörigen, Lehrern oder auch völlig Fremden wurden die Kinder geschimpft und auch "handfeste Watschn" waren an der Tagesordnung. Wer sich darüber beschwerte, bekam im günstigsten Fall zu hören: "Weast as scho vadiant hom", im schlimmsten "noch etwas oben drauf".

Nicht ausgespart wird der Einfluss der großen auf die kleine Welt - die Auswirkungen von Diktatur und Krieg, die sich immer mehr auch in einem Dörfchen im Osten Münchens spüren lassen. Zunächst nur sporadisch und erlebt aus der Sicht eines kleinen Mädchens. Etwa wenn die Familie ins Wirtshaus "an Hitla" wählen gehen muss - überwacht von einem grimmigen Uniformierten, der aufpasst, dass auch ja keiner die Wahlkabine benutzt. Nach und nach übernahm die neue Ideologie immer mehr den Alltag auch auf dem Dorf. Zunächst wurde den Baldhamern dann per Völkischem Beobachter mitgeteilt, "dass wir jetzt eine Fahne brauchen", die an Sonntagen gehisst werden musste. In der Schule wurde das Gebet durch das Absingen des Deutschlandliedes ersetzt, und die Baldhamer hatten an der Straße Spalier zu stehen, wenn Parteiprominenz aus München über Land fuhr. Der Alltag ging unterdessen zunächst scheinbar ungestört weiter, die Brennerei wurde größer und moderner, auch im Leben der Baldhamer hielt der Fortschritt in Form von Kühlschränken und Waschmaschine Einzug.

Genau wie der Krieg. Kurz nach dessen Beginn haben die Baldhamer bereits ein erstes Opfer zu beklagen - die Machthaber organisieren eine aufwendige Heldengedenkfeier. Von diesen sieht man im Dorf Baldham in den kommenden Jahren noch mehrere, weniger werden dagegen nach und nach die Dinge des täglichen Bedarfs. Die Kinder werden in den Wald geschickt, um Kräuter als Ersatz für Tee, Kaffee und Gewürze zu sammeln, auf den Feldern wird mit bis dato neuen Pflanzen wie Raps experimentiert, und sogar auf dem Land werden manche Nahrungsmittel, wie etwa Fleisch, "sehr rar". Später kommen die Einschläge näher - auch ganz wörtlich, wenn in den letzten Kriegsmonaten nicht nur die Bahnstrecke, sondern auch die Kartoffelbauern auf den Feldern beschossen werden, die Baldhamer richten sich, so gut es geht, in ihren Kellern Bunker ein.

Baldham Elfriede Ziegler Lesung

Lesung in der Baldhamer Petrikirche (von links): Elfriede Ziegler, Fritz Bayerlein und Ulrike Flitner.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Der letzte Teil des Buches beschreibt das Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der besonders auf dem Land Plünderungen und sogar Morde an der Tagesordnung sind. Später muss man zusammenrücken, im Dorf werden fast in jedem Haus Flüchtlinge einquartiert, unter mehr als schlechten hygienischen Bedingungen. Mit dem Ende der Nachkriegswirren und dem Beginn einer neuen Zeit, auch für die Autorin, die im Sommer 1948 ihre Prüfung zur Kaufmannsgehilfin besteht, endet das Buch. "Die Läden boten wieder Waren an und die Zukunft lag rosig vor mir ... ich fühlte mich frei wie ein Vogel."

Das Buch "Erinnerungen an eine kleine Welt - Eine Kindheit in Baldham von 1929 - 1948" von Elfriede Ziegler gibt es für 10,50 Euro im Rathaus Vaterstetten und in der Gemeindebücherei.

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