Unzufriedene Mediziner:Streikbereit

34 Euro für einen Patienten, egal wie oft er kommt: Die niedergelassenen Ärzte im Landkreis arbeiten oft nicht kostendeckend und fordern deshalb ein höheres Honorar von den Kassen

Valerie Schönian

Werner Klein hat ein Schild gebastelt. "Ab jetzt werde ich nicht mehr bezahlt", steht darauf. Irgendwann im dritten Monat eines jeden Quartals stellt er es an die Ecke seines Schreibtischs, mit dem Schriftzug in Richtung Patient.

Doktor Werner Klein ist Neurologe. Er hat in München studiert, ist seit mehr als 20 Jahren praktizierender Arzt und hat seit 1993 eine eigen Praxis in Ebersberg. Ein normaler Arbeitstag von Klein hat etwa zehn Stunden: Morgens um 8 Uhr behandelt er den ersten Patienten, gegen 18 Uhr verlässt er seine Praxis. Die Zeiten zwischen den einzelnen Patienten überbrückt er mit Papierkram, auch seine etwa einstündige Mittagspause. "Aber dabei kann man wenigstens Kaffee trinken", sagt der Vorsitzende des Ärztlichen Kreisverbandes Ebersberg mit einem Hauch Ironie.

Wenn sich die Ur-Abstimmung der Ärzte an diesem Mittwoch für einen Streik entscheidet, wird auch Klein seine Praxis schließen. Nicht, weil er völlig unzufrieden wäre mit seiner Lage. Zwar arbeite er oft unbezahlt, "aber damit könnte ich leben", meint der Neurologe. "Was mir Sorgen macht, ist der Umgang der Kassen mit uns und den Patienten. Sie sind zu einem Konzern geworden, der den Menschen hinten runter fallen lässt." Also hat er für den Protest gestimmt. "Bei dem derzeitigen Verhalten der Kassen fragen wir uns, bei was für einem Affentheater wir da mit machen." Die Patienten sind bei der Vorführung ungefragt auf die Bühne gezogen worden: Denn die stehen bei einem Streik vor geschlossenen Türen. In jedem Quartal behandelt Klein etwa 1000 Patienten, die alle davon betroffen sein könnten. Neben ihm gibt es etwa 170 weitere niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten in Ebersberg, die alle streiken könnten.

Der Auslöser der Proteste sind die gescheiterten Verhandlungen zwischen dem Spitzenverband der ärztlichen Krankenkassen (GKV) und der Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) vor eineinhalb Wochen. Diese hatten bei den alljährlichen Honorarverhandlungen eine Steigerung von elf Prozent gefordert, jene eine Senkung von sieben Prozent. Das Ergebnis ist eine Honorarerhöhung von 0,9 Prozent, was laut Klein "unter die Gürtellinie geht." Woher kommen diese auseinanderdriftenden Vorstellungen?

Kirsten Warweg ist Pressesprecherin des Kassenärztlichen Verbundes in Bayern (KVB). Sie weiß: Es ist kompliziert mit den Ärzten und ihrem Lohn. "Sie bekommen Honorarumsätze, von denen die Praxiskosten und alle anderen Abgaben gezahlt werden müssen", erklärt Warweg. In Bayern gebe es etwa 24 000 niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten. Unter ihnen teilt die KVB einen "Honorartopf", wie es Warweg nennt, auf. Um die Größe dieses Topfes geht es bei den jährlichen Verhandlungen zwischen KBV und GKV. Denn jedes Jahr wird ihm ein Deckel aufgesetzt. In welcher Höhe entscheidet sich durch Menge und Wert von Behandlungen. Also wird erstens überschlagen, wie viele ärztliche Leistungen im folgenden Jahr wahrscheinlich nötig sind. Zweitens wird über den Preis, den eine jeweilige Behandlung wert ist, verhandelt. So wird ein Preiskatalog für ärztliche Leistungen aufgestellt, in der jeder Behandlung ein bestimmter Punktewert zugeschrieben wird.

Dieser Punktewert wurde 2010 betriebswirtschaftlich kalkuliert. Es wurde also berechnet, wie viel Geld die Ärzte für einen Punkt bekommen müssten, damit sie nach allen Abgaben noch eine angemessene Entlohnung für ihre Leistungen erhalten. Dieser Wert müsste bei 5,11 Cent liegen. Momentan bekommen Ärzte offiziell 3,5001 Cent pro Punkt, also wesentlich weniger. Aber selbst das ist meist nur theoretisch, da der Honorartopf eben einen Deckel hat und nicht ausreicht. "Wenn ich den Punktwert von 3,5 Cent ernst nehmen würde, dürfte ich erst wieder im Oktober arbeiten", erklärt Klein. Denn in der ersten Septemberwoche hat er schon 74 Prozent des Budgets, das er für das dritte Quartal aus dem Honorartopf zugeteilt bekommen hat, ausgeschöpft.

Gerade hat er einen Patienten behandelt, dem im Freibad ein Freund in den Nacken gesprungen war. Die Diagnose hat etwa eine halbe Stunde gedauert: Eine Höhlenbildung im Rücken. Dafür hat Kleine eine neurologische Untersuchung durchgeführt, die Röntgenbilder des jungen Mannes begutachtet, seine Krankenakte eingesehen, mit seinem Hausarzt gesprochen, die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen und den Patienten beraten. Nach dem aktuellen Leistungskatalog und einem Punktewert von 3,5001 Cent ständen Klein dafür 74,45 Euro zu. Davon müssen noch Steuern und andere Abgaben bezahlt werden. Aber der Punkt ist: "Wir bekommen dieses Geld ja nicht", so Klein. Nachdem der Kassenärztliche Verbund Bayerns alle Gelder nach bestimmten Kriterien im Bundesland verteilt hat, bleiben für den Neurologen pro Patient durchschnittlich 34,7 Euro übrig - egal wie oft er behandelt wird.

Wegen der schlechten Finanzsituation hätten die Ärzte in den letzten zwei Jahren keine Honorarerhöhung verlangt, so Klein. Die angebliche Erhöhung, von der die Kassen sprechen, betreffe nicht den Punktwert, sondern die schlichtweg gestiegene Menge an Patienten. Durch Inflationsraten und Investitionskosten hätten Ärzte so in den letzten vier Jahren de facto ein Minus eingefahren, bestätigt auch Warweg. Bei den Verhandlungen Anfang September haben die Ärzte mit elf Prozent eine Erhöhung auf 3,8 Cent pro Punkt gefordert. Die Kassen gingen mit einer Forderung von Minus sieben Prozent in die Verhandlungen, was einem Punktewert von 3,25 Cent entspricht. Nur durch dieses strategische Kalkül kann sich KVB-Sprecherin Warweg das letztendliche Ergebnis von 0,9 Prozent, also 3,58 Cent pro Punkt, erklären.

Trotz des Streiks - Klein hat Spaß an seiner Arbeit. "Der gesellschaftliche Lohn ist, dass ich Menschen, die mit einem Leiden zu mir kommen, Erleichterung verschaffen kann", sagt der Neurologe. Und immer, wenn einer von ihnen nach seinem Schild fragt, erklärt er ihm gern die Bedeutung.

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