Tourguide-App:Digitaler Chronist

Drei Jahre lang tüftelte Konrad Weinstock aus Pliening an einer App, die als individueller Tourguide durch bayerische Städte führen soll - auch durch Ebersberg. Nun ist die erste Version für Smartphones kostenlos erhältlich

Von Alexandra Leuthner

Der Schreibtisch in seinem kleinen Büro, zu Hause, in einer Plieninger Seitenstraße, ist vollgestellt mit Bildschirmen. In der Mitte des Raums steht ein Liegesessel, auf dem ein Karton abgelegt ist, und es sieht nicht aus, als ob Konrad Weinstock-Adorno den Stuhl oft zum Ausruhen benutzen würde. Statt dessen sitzt er am Computer, organisiert, schreibt Artikel über historische Begebenheiten, wertet alte Fotografien aus, recherchiert in Wikipediaeinträgen, telefoniert mit Programmierern, Stadtführern, Archivaren, Bürgermeistern, Geschäftsleuten.

Markt Schwabener Haberfeldtreiben

Beim Haberfeldtreiben in der Neujahrsnacht 1869 sah so mancher Markt Schwabener sein letztes Stündlein gekommen. Das Bild stammt aus der Zeitschrift "Gartenlaube" von 1895.

(Foto: OH)

Was Konrad Weinstock seit gut dreieinhalb Jahren beschäftigt, ist eine App, die sich "sQRribe - the individual guide" nennt. Gut 3000 bis 3500 Stunden habe er schon hinein gesteckt in das Programm, das man sich kostenlos aufs Smartphone oder auf den PC holen kann, um sich dann, vor Ort oder auch zu Hause, durch die Sehenswürdigkeiten zu klicken. Vor Ort ist neben Ulm, München, Landshut, Passau, Erding, Freising und Nördlingen inzwischen auch Ebersberg mit dem gesamten Landkreis. 41 Geschichten zu Orten, Mythen oder historischen Begebenheiten haben Weinstock und sein Team bisher gefunden, zu kurzen Filmen verarbeitet und in Texte gefasst. Abgeschlossen sein muss der Themenkomplex dabei aber nicht. "Das funktioniert nach dem Prinzip Wikipedia", sagt Weinstock. Wenn jemand einen Vorschlag habe, vielleicht eine Anekdote mit alten Fotos aus der Vergangenheit des Landkreises, dann lasse sich das jederzeit einarbeiten, solange es den vorgegebenen Kriterien entspreche. Dabei will Sqribe - zusammen gesetzt aus "scribe", englisch für Schreiber, Chronist, und QR, für quick response - mehr sein als eine Zusammenfassung trockener Abhandlungen und geschichtlicher Daten, wie sie sich in jedem Schullexikon nachlesen lassen. Vielmehr geht es um lebendiges Wissen, das, wenn es sich anbietet, humorvoll oder auch mit einem Schuss Sozial- oder Gesellschaftskritik rüber gebracht wird.

Aussichtsturm Ebersberg alte Postkarte

Die alte Aufnahme des Ebersberger Aussichtsturms wurde aus der Chronik des Ebersberger Klosters des jüngst verstorbenen Kreisheimatpflegers Markus Krammer entnommen.

(Foto: OH)

Weinstock arbeitet daher mit Stadtarchivaren wie Ulrike Flitner in Vaterstetten, Heimatpflegern wie Bernhard Schäfer oder Stadtführern wie Thomas Warg in Ebersberg zusammen. Auch mit Verschönerungs- oder Heimatvereinen. So hat ihm der Vorsitzende des Heimatvereins Pliening, Stefan Seizl, je einen Artikel über die alte Geltinger Dorfkirche und die Fialialkirche Heilig Kreuz in Pliening geschrieben. Sqribe arbeitet mit historischen Bildern, zeitgenössischem Pressematerial und alten Filmausschnitten aus Wochenschauen. So manches Stadtarchiv, erzählt Weinstock, habe sich schon als wahre Fundgrube erwiesen. Dabei haben es ihm, der in den letzten Jahren seines vergangenen Berufslebens als selbständiger Lizenzvertreter für Baedeker und Marco Polo überall in der Welt herum gereist ist, von Europa bis nach Südamerika und Japan, vor allem die kleinen bis mittleren deutschen Städte angetan, jene, für die es oft nicht mehr als ein Faltblatt gibt - oder einen Bildband. "Beides hilft einem Besucher nicht wirklich weiter", sagt er. Genauso wenig wie jene Apps, die nicht nur für Besucher, sondern auch für Einheimische gemacht sind. "Was interessieren mich die Öffnungszeiten des Bürgerbüros, wenn ich zu Besuch in Ebersberg bin, oder in Passau?"

Konrad Weinstock

Konrad Weinstock tüftelt seit Jahren an einer Handy-App.

(Foto: oh)

Die beiden Städte gehören zu den insgesamt acht Orten, die man seit wenigen Tagen per App besuchen kann, für den PC gibt es Sqribe schon länger. Angefangen hat Weinstock mit Ulm - "da kannte ich den Oberbürgermeister", scherzt er, "da war es leichter." Doch so richtig spaßig war es ihm eine Weile lang gar nicht zumute. Ulm ist bisher die einzige Stadt, die für die App bezahlt. Von den über 60 weiteren Stadtverwaltungen, die Weinstock angeschrieben hat, meldete sich ein Großteil nicht einmal zurück, zum Unverständnis des Plieningers. Die Hinweise auf offene und versteckte Sehenswürdigkeiten, wie etwa das Kloster oder den Ebersberger Aussichtsturm, trügen doch dazu bei, Gäste länger in der Stadt zu halten, das bringe Geld in die Kassen. Wenn eine Stadt eine solche App selbst entwickeln lasse, "kostet sie das mindestens 20 000 Euro, eher bis zu 50 000."

So hat Weinstock seinen Plan, die App an die Kommunen zu verkaufen, erst einmal fallen gelassen und ist selbst in Vorleistung gegangen. Er hofft nunmehr auf die finanzielle Unterstützung der lokalen Gewerbetreibenden. Als Sponsoren einzelner Seiten oder Beiträge könnten sie genannt werden, man könne auch Werbehinweise bei lokalen Ereignissen einblocken - oder auf solche hinweisen. "Ich kann Werbung schalten für einen Weihnachtsmarkt oder den Perchtenlauf in Kirchseeon." Zudem funktioniert der Link zu "Tripadvisor". So könne der Nutzer bequem von einem zweiminütigen Film über das Kloster zur örtlichen Gastro- und Hotelszene gelangen, sich ein Zimmer suchen oder einen Tisch in einem Lokal reservieren.

Acht der 41 Sehenswürdigkeiten im Landkreis sind in der Kreisstadt selbst zu finden. Unterlegt mit Kirchenmusik erzählt der Sprecher Frank Boos, etwa die Geschichte vom Kloster Ebersberg und der Hirnschale des Heiligen Sebastian, die zum Grund für die Pilgerwallfahrten nach Ebersberg wurde. Da hört man schon auch mal ein heißes Knistern im Hintergrund, wenn die Rede von einem wahnsinnigen Mönch ist, der Feuer in der Klosterkirche legt, es schießen Kanonen, wenn Bauern im Bauernaufstand von 1634 gegen kurfürstliche Kompanien kämpfen, oder Gewehre beim Markt Schwabener Haberfeldtreiben in der Neujahrsnacht 1867. Der Haberer Weg, der Markt Schwaben vom Marktlatz weg führt, hat daher seinen Namen. Unterlegt sind die Filme mit Fotos von alten Stichen, Gemälden oder Postkarten. Meist zieht Weinstock auch selbst mit der Kamera los, um neue Aufnahmen zu schießen und Stätten der Geschichte entsprechend in Szene zu setzen. Zu finden ist die App im App-Store oder Playstore unter dem Suchbegriff "sQRibe".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: