SZ-Adventskalender:Wenn Winterschuhe zum Luxus werden

Lisa K. hat vor einem halben Jahr ihren Mann und Vater ihrer beiden Töchter verloren. Jede Ausgabe befördert die Familie seither ein bisschen weiter "ins Minus"

Von Theresa Parstorfer, Mart Schwaben

SZ-Adventskalender: Im April dieses Jahres ist Jürgen K. gestorben. Seitdem kämpft seine Witwe gegen die steigenden Schulden.

Im April dieses Jahres ist Jürgen K. gestorben. Seitdem kämpft seine Witwe gegen die steigenden Schulden.

(Foto: Peter Hinz-Rosin)

Geblitzt worden war Lisa K., 43, die in Wirklichkeit anders heißt, noch nie. Bis sie vor ein paar Wochen auf dem Weg nach Hause im Auto saß und ein Lied im Radio gespielt wurde, das "eines der Lieder von meinem Mann und mir gewesen war". Völlig übersehen habe sie da, dass sie sich schon in einer auf 50 Stundenkilometer begrenzten Zone befand. Vor sechs Monaten ist Lisa K.s Mann Jürgen gestorben. Nach zweijährigem Kampf gegen den Krebs, der das Leben der vierköpfigen Familie völlig durcheinander gebracht hat.

Lisa K. kennt die Krankenakte ihres Mannes auswendig. 2010 Hodenkrebs, 2014 ein weiterer, ein völlig anderer Tumor, diesmal in der Lunge. Ein Mischtumor, also ein gutartiger und ein bösartiger in einem. Sechs Chemotherapien vermochten nichts auszurichten, aber niemand wollte operieren. Bis auf Heidelberg, weshalb die Familie für einen Monat dorthin umzog. Für die Unterkunft mussten sie selbst aufkommen sowie auch für die Expertengespräche zuvor. Ein acht Zentimeter großes Geschwür entfernten die Ärzte in einer mehrstündigen Operation, zusammen mit dem unteren Flügel der rechten Lunge.

Lisa K. sitzt in ihrer kleinen Küche in Markt Schwaben. Vor ihr auf dem Tisch liegen zwei Packungen Taschentücher. In eine steckt sie die feinsäuberlich zusammengerollten schon benutzten, aus der anderen zieht sie hin und wieder ein frisches, um sich zu schnäuzen oder Tränen abzuwischen. Daneben stehen sorgfältig arrangiert eine bunte Mischung aus Gläsern, ein kleiner Fliegenpilz aus Holz, vier Schokoriegel und drei Päckchen Brausepulver. An der Wand hinter dem Küchentisch hängen Kinderzeichnungen und selbst gebastelte Karten. "Lieber Papa ich weis das du grang bist", steht auf einer dieser Karten in krakeligen Bleistiftlinien. "Bester Papa. Tot am 30.4.2017" auf einer anderen, unter einem leicht angerissenen Passbild von Jürgen K.

Zwei Töchter hat Lisa K., Lina und Lucy, neun und zwölf Jahre alt sind sie, und immer hat Lisa K. die beiden mit einbezogen, hat ihnen erklärt, was mit ihrem Papa passierte. "Ich weiß nicht, ob das richtig war, aber die haben das ohnehin gespürt"sagt sie. Also fehlten die beiden Mädchen oft in der Schule, wenn sie mit ins Krankenhaus fuhren, um den Vater zu sehen. Manchmal nahm Lisa K. sie auch mit zu Arztgesprächen, wenn sie niemanden gefunden hatte, der auf sie aufpassen konnte. Lisa K. hat keine Familie in der Nähe, ihre Eltern sind beide an Krebs gestorben und die zwei der drei Schwestern, mit denen sie noch Kontakt hat, leben 800 Kilometer weit entfernt. Mit der Familie ihres Mannes gibt es schon seit langem Probleme. "Er wollte nicht einmal, dass seine Mutter oder seine Schwester von seinem Tod benachrichtigt werden, auch wenn ich mich darum bemüht habe, dass sie sich noch aussprechen", sagt Lisa K. und hebt hilflos die Schultern.

Auch die letzte, hart erkämpfte Operation konnte Jürgen K. nicht retten, ein Loch zwischen Speiseröhre und Lunge wurde sechs Wochen nach dem Eingriff festgestellt. Essen war kaum noch möglich. 30 Kilo nahm er in nicht einmal zwei Monaten ab. Und nachdem weitere Tests ergaben, dass auch keine neuartigen Medikamente helfen würden, wurde er in eine Palliativstation in Wartenberg verlegt. "Das Team dort war wirklich sehr gut. Nach wie vor fragen sie immer wieder nach, wie es uns geht", sagt Lisa K. und ein weiteres Taschentuch wandert in die Packung mit den gebrauchten.

Seit der Geburt ihrer älteren Tochter hat Lisa K., die ausgebildete Zahnarzthelferin ist, nicht mehr gearbeitet, da sie für ihre Kinder da sein wollte, wenn sie aus dem Kindergarten oder der Schule kamen, anstatt sie in Ganztagesbetreuung zu geben. "Ich bin mit diesem Privileg aufgewachsen und mein Mann auch und das war uns wichtiger als mehr Geld zu haben." Deshalb teilen sich die beiden Mädchen bis heute ein Zimmer in der kleinen, bunt eingerichteten Wohnung in Markt Schwaben, in die die Familie vor mehr als zehn Jahren gezogen war, nachdem Jürgen K., der gelernter Metallbauer war, eine Stelle bei einem Solarunternehmen im Landkreis gefunden hatte.

Was jedoch damals finanziell noch irgendwie machbar war, wird seit dem Tod des Vaters zunehmend schwieriger. Nicht nur einen Teil der Krankenkosten musste die Familie selbst zahlen, Lina braucht neuerdings eine Brille, beide Mädchen wachsen schnell und auf einmal sind sogar Winterschuhe ein Luxus, egal wie billig Lisa K. in Secondhand-Shops und Flohmärkten einkauft. Deshalb - und auch, weil der bürokratische Austausch zwischen Jobagentur und Rentenkasse schwerfällig ist, Geld einerseits nicht überwiesen wird und andererseits Mahnungen mit der Post kommen - rutschte Lisa K. "ins Minus". 1500 Euro sind mittlerweile zu wenig auf dem Konto. Wie sie diese Schulden begleichen soll, wie sie alle noch auf sie zukommenden Kosten stemmen soll, weiß sie nicht.

Sie bemüht sich, Arbeit zu finden. Bisher ohne Erfolg. "Ich könnte nur halbtags arbeiten, weil ich vor allem jetzt für die Mädchen da sein will." Die Große weine viel, die Kleine reagiere eher aggressiv. So etwas wie Alltag versucht Lisa K. ihren Töchtern zu ermöglichen und als ihr vor einigen Wochen vom Jobcenter ein Platz in einem Computer-Kurs angeboten worden war, um besser qualifiziert zu sein für mögliche Stellen, schöpfte Lisa K. Hoffnung, allerdings konnte sie den Kurs nicht beenden, da nun sie überraschend ins Krankenhaus musste.

Schon vor der Krankheit ihres Mannes hatte Lisa K. gewusst, dass sich ein gutartiges Geschwür in ihrer Gebärmutter eingenistet hatte. "Als es meinem Mann so schlecht ging, habe ich mich selbst hinten angestellt". Nachdem sie schon einen Hörsturz erlitten hatte, wurde dann bei einer Kontrolle festgestellt, dass der Tumor viel zu groß geworden und eine Operation unumgänglich war. Sechs Wochen lang war sie nach der Operation aufgrund einer Entzündung schwer krank und nun scheint der kleine Lichtblick, die Hoffnung auf einen Weg zurück ins Arbeitsleben, auch wieder in weite Ferne gerückt zu sein. "Nächstes Jahr im Sommer kann ich vielleicht noch einmal an einem Kurs teilnehmen", sagt sie. Zwar möchte sie unbedingt davor schon zumindest einen Halbtagsjob finden, aber im Moment ist sogar ein Blitzer-Strafzettel über knapp 100 Euro zu viel - für die Traurigkeit, aber auch das Konto.

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