Steinhöring:Feiern mit den Nachbarn - und viel Käse

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Bei Familie Puchner zu Besuch (von links): die tunesische Studentin Afrah Ghedira, Helmut Puchner, Pflegesohn Tobias Loibl und Gabi Puchner. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Afrah Ghedira kommt aus Tunesien und studiert in Heidelberg. Über Silvester besucht sie eine Familie in Tulling

Von Jan Schwenkenbecher, Steinhöring

Langsam kommt Afrah Ghedira die Treppe herunter, sagt kurz "hallo" und nimmt am Wohnzimmertisch Platz. Gerade hat die 19-Jährige einen sechsjährigen Auslandsaufenthalt begonnen. Schüchtern wirkt sie nicht, eher ruhig und interessiert. Sie sitzt, guckt, wartet auf die Fragen. Gabi und Helmut Puchner, die Afrah über Weihnachten und Silvester zu sich nach Tulling eingeladen haben, setzen sich dazu.

Die junge Frau kam vor drei Monaten aus ihrer Heimat, dem tunesischen Monastir, nach Deutschland, um hier zu studieren. Im Rahmen eines sechsjährigen Stipendiums soll sie zunächst ein Jahr Deutsch lernen. Das macht sie in Heidelberg, wo sie in einem Studentenwohnheim lebt. Die restlichen fünf Jahre möchte sie Ingenieurswissenschaften studieren. Deshalb wollte sie auch nach Deutschland, denn hier habe das Studium eine hohe Qualität, besonders in dem von ihr gewählten Fach, sagt sie. Das Stipendium wird nur an herausragende Abiturienten vergeben, und Afrah absolvierte in ihrem Jahrgang das drittbeste technische Abitur des Landes. In Heidelberg informierten sie Kommilitonen und Sprachlehrer über den "Verein Experiment", der unter anderem Austauschstudenten über die Weihnachts- und Silvesterzeit an deutsche Familien vermittelt. Damit sie in dieser Zeit nicht alleine sind und zudem deutsche Bräuche kennenlernen.

Afrah bewarb sich, füllte einen Fragebogen aus, erklärte, dass sie Kino und Fußball möge und eine Gastfamilie suche, um die deutsche Sprache und Kultur kennenzulernen. Der Verein sammelte die Bewerbungen ein und verteilte sie an interessierte Familien. "Es war wie ein Casting", sagt Helmut Puchner, selbst Ingenieur, der über einen Zeitungsartikel auf das Projekt aufmerksam geworden war, "wir konnten zwischen etwa 40 Bewerbern auswählen".

Ein lokaler Mitarbeiter des Vereins kam vorbei und schaute sich das Zuhause der Puchners an. Auch sie mussten ein Formular ausfüllen mit Fragen wie: "Beschreiben Sie einen typischen Wochentag in Ihrem Leben. Wie verbringen Sie ein typisches Wochenende?" Der Verein stellte Afrah die Puchners vor, sie sagte ja. Und ist nun seit dem 22. Dezember in Tulling zu Gast. Pünktlich zum Fest. Heiligabend gingen die Puchners mit Afrah in die Kirche, danach zu Nachbarn, es gab Geschenke, Käse und Rotwein. Afrah trinkt jedoch keinen Alkohol. So wie mehr als 90 Prozent der Tunesier ist sie Muslimin. Den Abend fand sie interessant. Nicht wegen der Gebete und Gesänge in der Kirche, sondern weil die Puchners das Fest mit Freunden feierten. "In Tunesien sind wir zwar auch mit den Nachbarn befreundet", sagt Afrah, "aber wir essen nicht mit ihnen. Feste feiern wir mit unserer großen Familie." Auch Silvester werden die Puchners mit den Nachbarn feiern. Die Frage, ob es für sie einen Punkt gab, der ihr besonders komisch erschien, antwortet Afrah: "Käse. Die Deutschen essen so viel Käse." Natürlich gebe es in Tunesien auch Käse. "Aber hier gibt es so viele verschiedene Sorten", sagt sie. Eines möchte sie aber noch klarstellen: Das sei nicht komisch, sondern eben nur anders.

Genau dafür, für das andere, ist sie ja in Tulling - um dieses Andere kennenzulernen. Genau darum geht es beim Austauschprojekt des Vereins Experiment - nicht um den Käse, sondern ums Lernen. Um gegenseitiges Lernen. "Wir haben ein Pflegekind, wir möchten Chancen geben. Chancen und Einblicke", sagt Helmut Puchner, "Einblicke in unsere Traditionen." In der jetzigen Zeit, wo viel gegen Ausländer gesprochen werde, sei es gut, Ausländern die deutsche Kultur näherzubringen. "Und wir möchten auch etwas über die tunesische Kultur lernen."

Afrah will aber Wissen nicht nur annehmen, sondern auch weitergeben. In den nächsten Tagen wird sie erst mal noch eine Menge lernen. Denn bis sie am 6. Januar wieder zurück nach Heidelberg fährt, möchte sie noch München entdecken. Ganz oben auf der Liste stehen für die angehende Ingenieurin und fußballbegeisterte Afrah die BMW-Welt und - ganz klar - die Allianz-Arena.

Der Verein Experiment sucht noch Gastfamilien für sein jährliches Projekt. Auch für weitere, längerfristige Austausche gibt es Bedarf. Interessenten können sich im Internet unter www.experiment-ev.de informieren.

© SZ vom 30.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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