Steinhöring:Denken wie ein Pferd

Steinhöring: Dorothee Drechsels Hengst Arnaldur bekam bei der Gangprüfung Topnoten der Richter ausgesprochen. Die Qualifikation für die deutschen Meisterschaften hätten die beiden damit.

Dorothee Drechsels Hengst Arnaldur bekam bei der Gangprüfung Topnoten der Richter ausgesprochen. Die Qualifikation für die deutschen Meisterschaften hätten die beiden damit.

(Foto: Christian Müllner/oh)

Mit 18 Jahren wurde Dorothee Drechsel Deutsche Meisterin im Islandpferdereiten. In diesem Jahr könnte die 32-Jährige diesen Erfolg wiederholen.

Von Theresa Parstorfer, Steinhöring

Arnaldur spürt den Frühling. Übermütig prescht er los. So übermütig, dass er bei einem etwas zu ausladenden Galoppsprung beinahe das Gleichgewicht verliert. Er schüttelt seine dunkle Mähne und kehrt schnaubend in die Mitte der Halle zu seiner Besitzerin Dorothee Drechsel zurück. Die bringt ihn mit einer unauffälligen Bewegung ihrer Hände Richtung Schultern zum Stehen, bevor sie ihm mit einem ähnlich schlichten Schwenker des Handgelenks signalisiert, wieder loszutraben.

Arnaldur ist isländischer Rassehengst. Benannt wurde er nach einem der bekanntesten isländischen Schriftsteller Arnaldur Indriðason. Acht Jahre ist er alt und vor knapp zwei Jahren überquerte er auf einem Containerschiff die Norwegische See von Island nach Deutschland. Seit 2017 ist sein neues Zuhause der Pferdebetrieb der Drechsels in Etzenberg hinter Steinhöring. Seine neue Besitzerin ist 32 Jahre alt und wann sie das erste Mal auf einem Pferd gesessen ist, weiß sie nicht mehr. "Bestimmt, bevor ich laufen konnte", sagt sie und lacht.

Als sie noch aufs Gymnasium ging, hat Drechsel ihr Abschlusszeugnis am letzten Schultag nie persönlich abholen können. Immer war sie in der letzten Woche des Schuljahres auf einem Turnier. Mit 18 Jahren gewann sie die deutsche Meisterschaft der unter-21-jährigen Islandpferdereiter. Fünf Jahre später tourte sie mit Appassionata, der erfolgreichen Pferde-Unterhaltungsshow, die jährlich im Schnitt 500 000 Zuschauer anzieht, durch die wichtigsten Städte Europas.

Vor einigen Wochen qualifizierte sie sich mit Arnaldur bei den Munich Icelandic Indoors für die Deutsche Meisterschaft im Sommer. Ob sie dort antreten wird, hängt davon ab, "ob Arnaldur sich dann in einer guten Trainingsphase befindet", sagt Drechsel. Denn Turniere seien nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein zeitlicher Aufwand, der mit einem Vollzeitjob nicht so ohne weiteres zu vereinbaren ist - sogar wenn der Vollzeitjob das Reiten selbst ist.

Islandpferde haben in Drechsels Familie Tradition. Schon 1971, und damit Jahre vor ihrer Geburt, besaß ihre Mutter Marianne Drechsel einige der kleinen, robusten Ponys, die im Winter ein wenig an Steifftiere erinnern. Erst war es nur ein kleiner Reitbetrieb für die Kinder im Umkreis, doch schon bald entdeckte Marianne Drechsel ihre Leidenschaft für die Zucht. Als eine der ersten in Bayern.

Und ihre Faszination für die Tiere übertrug sich auf die beiden Töchter Stephanie und Dorothee. Von ihrer älteren Schwester hat sie "eigentlich alles gelernt", was sie heute kann, sagt Drechsel. Ihre Nachmittage verbrachten sie zusammen im Stall. An den Vormittagen in der Schule waren sie die Pferdemädchen. Immer war für Dorothee klar, dass sie mit den Tieren arbeiten wollte.

Dorothee Drechsel

Schon in der Schule das Islandpferdemädchen: Dorothee Drechsel spricht fließend isländisch und trainiert zehn bis zwölf Pferde am Tag.

(Foto: Victoria Müller-Hausser/oh)

"Gerade 2016 wieder, als ich meine deutsche Meisterprüfung abgelegt habe und BWL lernen musste, habe ich gemerkt, dass ein Schreibtischjob überhaupt nichts für mich wäre", sagt Drechsel kurz vor der ersten Trainingseinheit des Tages im warmen Reiterstüberl. Die Brotreste, die die Menschen nicht gegessen haben, trocknen für die Pferde in einer Schüssel auf dem Kühlschrank. Auf dem Tisch vor der Couch liegt ein Reithelm.

Fast zehn Jahre gibt es den neuen, den professionellen Stall für bis zu 60 Tiere bereits. Seit Drechsel 2010 nach dem Abitur beschlossen hatte, nach Island zu gehen, um dort Pferdewissenschaften zu studieren. "Damit war auch klar, dass ich nach meinem Abschluss gerne einen eigenen Betrieb führen würde", sagt sie - als Pferdewirtin und Bereiterin auf einem großen Hof angestellt sein, das wollte sie nicht. Ohne die Unterstützung ihrer Eltern wäre dieser Schritt nicht möglich gewesen. Das betont sie. Beide verbringen sozusagen ihre Rente auf dem Hof.

Bevor es aber soweit war, musste Drechsel ihr Studium bestehen. Erst einmal hieß das, Isländisch lernen. "Das war hart", sagt sie. Zusammen mit einer deutschen Kommilitonin legte sie Nachtschichten ein. Wort für Wort mithilfe eines Wörterbuchs übersetzten sie die Vorlesungsskripte. Weihnachten ging es dann. Mindestens zweimal im Jahr fliegt Drechsel noch nach Island.

Gerade am folgenden Tag wird sie wieder so eine Reise antreten. Für ein einwöchiges Seminar an ihrer alten Universität, dem Holar University College, im Norden der Insel. Dort, wo nach wie vor kaum Touristen hinkommen. Meeresbiologie, Tourismusmanagement und Pferdewissenschaften wird dort gelehrt.

Von den 35 Studienanfängern in Drechsels Jahrgang haben 19 den Abschluss gemacht. Verletzungen seien manchmal an einem Abbruch Schuld gewesen. Das tägliche Training mit wilden Pferden kann gefährlich sein. Auch Drechsel musste wegen eines Schulterbruchs einmal ein halbes Jahr aussetzen. Wie oft sie schon vom Pferd gefallen ist? Da lacht sie. "Als Reiter fällt man nun mal", sagt sie. Angst vor dem Wieder-Aufsteigen habe sie aber nie gehabt.

Drechsel ist eine schlanke Frau mit dunkelbraunen Haaren, die sie zu einem kleinen Pferdeschwanz im Nacken gebunden hat, sodass sie nicht stören, wenn sie gleich den Helm aufsetzen wird. Ihre Augen sind dunkelbraun, fast so wie die ihres Hengstes. Die Wangen gerötet. Gesund sieht das aus. Jeden Tag draußen, bei jedem Wetter.

"Vor allem im Winter kann es natürlich anstrengend werden", sagt Drechsel. Bei Minusgraden, Wind und Schnee täglich zehn bis zwölf Pferde zu trainieren, meint sie. Denn das tut sie, seit sie Pferdewirtschaftsmeisterin ist und dadurch nicht nur den Beritt von Jungpferden, sondern auch die Ausbildung von Bereitern übernehmen darf. Die Nachfrage nach Islandpferden und dem Unterricht auf ihnen, der sich auf das saubere Herauskitzeln der zwei zusätzlichen Gangarten Tölt und Pass konzentriert, steigt in Deutschland - und besonders in Bayern.

Als die Drechsels die ersten Erfolge mit ihren "Isis" erzielten - im Turniersport, wie auch in der Zucht - war das noch nicht so. "Früher mussten wir noch für jedes Turnier durch halb Deutschland fahren", sagt Marianne Drechsel, und ja, auch belächelt wurde man von Reitern, deren Tiere um einiges größer waren als das durchschnittliche Stockmaß von 1,40 Meter eines Isländers. Doch da müsse man drüber stehen, sagt ihre Tochter. Was sie an der Arbeit mit Islandpferden so besonders findet, ist die Natürlichkeit.

In Deutschland kommt es selten vor, dass ein Reiter gelernt hat, mit wilden Pferden umzugehen. In Island hingegen wachsen die Pferde in großen Herden in den Bergen auf. Wenn sie im Sommer in die Ställe getrieben werden, haben viele von ihnen noch nie einen Menschen gesehen. "Denken wie ein Pferd", müsse man da, sagt Drechsel, denn Pferde reagieren nicht wie Menschen auf unbekannte Situationen. Flucht- und Herdentier in einem, das ist eine besondere Qualität der Tiere.

Deshalb braucht ein Hengst wie Arnaldur "einen Chef, der gerecht, bestimmt und berechenbar zugleich ist", sagt Marianne Drechsel, während sie ihrer Tochter dabei zusieht, wie sie den Braunen vor sich zurückweichen lässt. Ein Hengst wie Arnaldur sprudelt um diese Jahreszeit außerdem nur so vor Energie und Hormonen. Der Frühling, er wird kommen. Auch wenn Etzenberg an diesem Tag noch unter einer Schneedecke aufgewacht ist, und Dorothee Drechsel eine dicke, rote Winterjacke trägt. "Top Reiter" steht auf ihrer schwarzen Mütze. Passend. Denn das ist sie mit Sicherheit. Ob sie das im Sommer bei der Deutschen Meisterschaft zeigen wird, oder nicht.

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